Sollten Kinder bereits an der Grundschule chatten lernen?

In einer von Axel Krom­mer aus­ge­lös­ten Twit­ter­dis­kus­si­on zwi­schen Phil­ip­pe Wampf­ler und Sabi­ne Czer­ny ging es letz­te Woche heiß her. Struk­tu­rell tritt hier etwas auf, was mich zur Zeit mas­siv bei Dis­kus­sio­nen zum Ein­satz digi­ta­ler Mit­tel und Tech­ni­ken an der Schu­le stört. Das lässt sich gut an die­sem Bei­spiel zei­gen, weil da ganz unter­schied­li­che Ansät­ze auf­ein­an­der­tref­fen. Ich ver­kür­ze ein­mal die Argu­men­ta­ti­on von Phil­ip­pe Wampfler:

  1. Kin­der chat­ten in ihrer Frei­zeit bereits, los­ge­löst, ob Schu­le sich damit beschäf­tigt oder nicht.
  2. Der Chat (z.B. auch Whats­App) als Kom­mu­ni­ka­ti­ons­form ist eine eta­blier­te Form gesell­schaft­li­chen Informationsaustausches..
  3. Dazu gehö­ren auch ergän­zen­de chat­ty­pi­sche Aus­drucks­for­men wie etwa Smi­lies, Abkür­zun­gen etc. zum Aus­druck prag­ma­ti­scher Informationsanteile.
  4. Daher ist es not­wen­dig, bereits in der Grund­schu­le mit Kin­dern über die­se spe­zi­fi­sche Kom­mu­ni­ka­ti­ons­form zu spre­chen bzw. zu reflektieren

Phil­ip­pe Wampf­ler geht in sei­ner Argu­men­ta­ti­on von einem Inhalt bzw. einer Kom­pe­tenz aus. Sabi­ne Czer­ny geht von kon­kre­ten Erfah­run­gen mit Kin­dern aus. Da knallt es dann zwar eini­ger­ma­ßen höf­lich und rhe­to­risch hübsch ver­packt, aber den­noch recht schnell.

Wie das The­ma Chat für mich in die Grund­schu­le gehört

Wie oben bereits deut­lich wird, ist chat­ten für mich eine Form der mensch­li­chen Kom­mu­ni­ka­ti­on. Je nach Ansatz setzt sich Kom­mu­ni­ka­ti­on aus syn­tak­ti­schen, seman­ti­schen und prag­ma­ti­schen Ele­men­ten zusammen.

  1. Syn­tax: Wie ist eine Kom­mu­ni­ka­ti­on for­mal gestaltet?
  2. Seman­tik: Wel­che Bedeu­tung besit­zen ein­zel­ne syn­tak­ti­sche Elemente?
  3. Prag­ma­tik: Was wird über die syn­tak­ti­sche und seman­ti­sche Ebe­ne hin­aus transportiert?

Bei­spiel:

  1. Syn­tax: Es gibt das Wort „Tisch“, dass aus vier Zei­chen besteht.
  2. Seman­tik: Das Wort „Tisch“ ist einer Holz­plat­te mit meist vier Bei­nen zuge­ord­net, an der man z.B. essen kann.
  3. Prag­ma­tik: Wenn ich auf einen Stuhl mit etwas zu Essen auf einem Tel­ler sit­ze und und „Tisch?“ sage, könn­te ich z.B. zum Aus­druck brin­gen, dass ich ger­ne einen Tisch hätte.

Zur prag­ma­ti­schen Ebe­ne gibt es sehr vie­le Model­le, weil genau das ein Feld ist, wel­ches sich am schwers­ten in den Griff bekom­men lässt, z.B. das Vier-Sei­ten-Modell von Schulz von Thun. Twit­ter und Whats­App eska­lie­ren an vie­len Stel­len, weil z.B. Iro­nie aus unter­schied­li­chen Grün­den schlicht nicht erkannt wird – ein typi­sches  Schei­tern von Kom­mu­ni­ka­ti­on auf der prag­ma­ti­schen Ebe­ne. Ein Chat ist ledig­lich eine mög­li­che Aus­prä­gung von Kom­mu­ni­ka­ti­on – nicht mehr und nicht weniger.

Was man mei­ner Ansicht nach also in der Grund­schu­le bear­bei­ten und reflek­tie­ren „muss“, ist also schlicht Kommunikation.

  • Was von dem, was ande­re zu mir sagen, ver­letzt mich?
  • Was von dem, was ande­re zu mir sagen, macht ein schö­nes Gefühl?
  • Macht es für mich einen Unter­schied, ob mir jemand etwas schönes/hässliches schreibt oder es mir sagt?
  • Wie füh­le ich mich, wenn es mir nicht gelingt, in eine Grup­pe zu kom­men, weil die nicht mit mir reden?
  • Wie sieht jemand aus, der wütend, fröh­lich, gelang­weilt […] ist?
  • […]

Spä­ter, in der Über­tra­gung auf digi­tal ver­mit­tel­te Kommunikationssituationen:

  • Wann sage ich jeman­den etwas direkt ins Gesicht?
  • Was habe ich auf Whats­App schon Schö­nes und Komi­sches erlebt?
  • Mit wem spre­che ich in einem Chat­room eigent­lich? Ist das immer auch ein Kind?
  • Was macht Whats­App leich­ter, was ist total nervig?
  • […]

In der Aus­ein­an­der­set­zung mit sol­chen oder ähn­li­chen Fra­gen wer­den bes­ten­falls Kom­mu­ni­ka­ti­ons­mus­ter erkenn­bar, die sich in unter­schied­li­chen Kom­mu­ni­ka­ti­ons­for­men wie­der­fin­den las­sen bzw. auf sie über­trag­bar sind. In der Beschäf­ti­gung mit Chats allein nicht. Im Ori­en­tie­rungs­rah­men Medi­en­bil­dung, den ich mit­ge­stal­ten durf­te, steht für die Grund­schu­le unter ande­rem dies:

Schü­le­rin­nen und Schü­ler kom­mu­ni­zie­ren und koope­rie­ren unter Ein­hal­tung von Umgangs­re­geln mit Hil­fe ver­schie­de­ner digi­ta­ler Kommunikationsmöglichkeiten

… und das kann ich u.a. erst machen, wenn ich all­ge­mei­ne Umgangs­re­geln für Kom­mu­ni­ka­ti­on dis­ku­tiert, erprobt und erfah­ren habe, bzw. ist die­ser Schritt dann ein mar­gi­na­ler bzw. kommt er doch ganz auto­ma­tisch mit hin­ein, wenn ein Ver­trau­ens­ver­hält­nis zwi­schen Lehr­kraft und Kin­dern besteht. Viel­leicht gibt es die eine oder ande­re gera­de im Netz sehr flui­de und damit schu­lisch kaum sinn­voll zugäng­li­che syn­tak­ti­sche Erwei­te­rung in Form von Codes, Smi­lies etc. – aber da kön­nen Lehr­kräf­te meist mehr von SuS ler­nen als umgekehrt.

Fazit:

  1. Die For­de­rung, in der Grund­schu­le über das The­ma Chat­ten zu arbei­ten, ist ein stark ver­ein­fach­te, die in die­ser iso­lier­ten, nicht sys­te­misch gedach­ten Form auf Wider­stand sto­ßen muss und das ist gut so.
  2. Basis muss für mich das kind­ge­mä­ße Reflek­tie­ren über Kom­mu­ni­ka­ti­on an sich sein – und das geschieht an vie­len mir bekann­ten Grund­schu­len ganz selbstverständlich.
  3. Digi­tal ver­mit­tel­te Kom­mu­ni­ka­ti­on besitzt ande­re Kon­tex­te und vor allem auf der Ebe­ne der Prag­ma­tik Her­aus­for­de­run­gen, die auch vie­le Erwach­se­ne kom­plett über­for­dern – u.a. weil man wun­der­bar prag­ma­ti­sche Ele­men­te faken und instru­men­ta­li­sie­ren kann. Daher ist zu prü­fen, wel­che Vor­aus­set­zun­gen im Grund­schul­al­ter ent­wick­lungs­psy­cho­lo­gisch bereits sinn­voll erfahr­bar zu machen sind – und wel­che nicht.

In Deutsch auch einmal etwas Vor-schreiben

Auf einem Minit­weet­up mit Herrn Lar­big sind wir irgend­wie auf das Pro­blem gesto­ßen, dass es z.B. in Mathe­ma­tik oder Che­mie üblich ist, Auf­ga­ben oder Übun­gen durch die Lehr­kraft vor­zu­rech­nen, um z.B. bei­spiel­haft einen Lösungs­weg zu zei­gen, der dann bei ana­lo­gen Auf­ga­ben als Leit­fa­den die­nen kann.

Im Fach Deutsch wer­den von SuS oft durch­struk­tu­rier­te Tex­te ver­langt. Im Ide­al­fall übt man an vor­ge­ge­ben Text­bei­spie­len aus dem Lehr­buch – neu­er­dings auch mit Über­ar­bei­tungs­auf­ga­ben, d.h. der schlaue Lehr­buch­au­tor hat im Qua­li­täts­me­di­um Schul­buch extra ein paar Feh­ler­chen versteckt.

Wann aber schrei­ben Deutsch­lehr­kräf­te ein­fach ein­mal selbst einen Ana­ly­se­teil, eine Inhalts­an­ga­be oder eine Inter­pre­ta­ti­on und the­ma­ti­sie­ren ihren Text mit der Lerngruppe?

Häu­fi­ge Ausflüchte:

  1. Ich soll ja nichts ler­nen, son­dern die SuS!
  2. Ich mache mich doch vor der Lern­grup­pe nicht angreifbar!
  3. Das dau­ert doch viel zu lange!
  4. Dann kann man mich doch festnageln!
  5. (dann sehen die SuS doch auch mei­ne Unzulänglichkeiten …)

Ich habe mich heu­te getraut und mei­nen SuS etwas vor-geschrie­ben. Es han­del­te sich dabei um eine Ana­ly­se der Erzähl­hal­tung zum Roman­an­fang von „Bekennt­nis­se des Hoch­stap­lers Felix Krull“. Hier der Auszug:

Indem ich die Feder ergrei­fe, um in völ­li­ger Muße und Zurück­ge­zo­gen­heit- gesund übri­gens, wenn auch müde, sehr müde (so dass ich wohl nur in klei­nen Etap­pen und unter häu­fi­gem Aus­ru­hen wer­de vor­wärts schrei­ten kön­nen), indem ich mich also anschi­cke, mei­ne Geständ­nis­se in der sau­be­ren und gefäl­li­gen Hand­schrift, die mir eigen ist, dem gedul­di­gen Papier anzu­ver­trau­en, beschleicht mich das flüch­ti­ge Beden­ken, ob ich die­sem geis­ti­gen Unter­neh­men nach Vor­bil­dung und Schu­le denn auch gewach­sen bin. Allein, da alles, was ich mit­zu­tei­len habe, sich mei­nen eigens­ten und unmit­tel­bars­ten Erfah­run­gen, Irr­tü­mern und Lei­den­schaf­ten zusam­men­setzt und ich also mei­nen Stoff voll­kom­men beherr­sche, so könn­te jener Zwei­fel höchs­tens den mir zu Gebo­te ste­hen­den Takt und Anstand des Aus­drucks betref­fen, und in die­sen Din­gen geben regel­mä­ßi­ge und wohl been­de­te Stu­di­en nach mei­ner Mei­nung weit weni­ger den Aus­schlag, als natür­li­che Bega­bung und eine gute Kin­der­stu­be. An die­ser hat es mir nicht gefehlt, denn ich stam­me aus fein­bür­ger­li­chem, wenn auch lie­der­li­chem Hau­se; meh­re­re Mona­te lang stan­den mei­ne Schwes­ter Olym­pia und ich unter der Obhut eines Fräu­leins aus Vevey, das dann frei­lich, da sich ein Ver­hält­nis weib­li­cher Riva­li­tät zwi­schen ihr und mei­ner Mut­ter – und zwar in Bezie­hung auf mei­nen Vater – gebil­det hat­te, das Feld räu­men musste; […]
Unse­re Vil­la gehör­te zu jenen anmu­ti­gen Her­ren­sit­zen, die, an sanf­te Abhän­ge gelehnt, den Blick über die Rhein­land­schaft beherr­schen. Der abfal­len­de Gar­ten war frei­ge­big mit Zwer­gen, Pizen und aller­lei täu­schend nach­ge­ahm­tem Getier aus Stein­gut geschmückt; […]
Dies war das Heim, wor­in ich an einem lau­en Regen­ta­ge des – einem Sonn­ta­ge übri­gens – gebo­ren wur­de, und von nun an geden­ke ich nicht mehr vor­zu­grei­fen, son­dern die Zeit­fol­ge sorg­fäl­tig zur Richt­schnur zu neh­men. Mei­ne Geburt ging, wenn ich recht unter­rich­tet bin, nur sehr lang­sam und nicht ohne künst­li­che Nach­hil­fe unse­res dama­li­gen Haus­arz­tes, Dok­tor Mecum, von­stat­ten, und zwar haupt­säch­lich des­halb, wenn ich jenes frü­he und frem­de Wesen als »ich« bezeich­nen darf – außer­or­dent­lich untä­tig und teil­nahms­los dabei ver­hielt, die Bemü­hun­gen mei­ner Mut­ter fast gar nicht unter­stütz­te und nicht den min­des­ten Eifer zeig­te, auf eine Welt zu gelan­gen, die ich spä­ter so instän­dig lie­ben sollte.

(aus: Tho­mas Mann, Bekennt­nis­se des Hoch­stap­lers Felix Krull. Der Memoi­ren ers­ter Teil, Frankfurt/M.: Fischer 1989, S.7–13, gekürzt)

Und hier mein Arbeits­blatt dazu:

Vor­schlag für einen Analysetext Funk­ti­on für die Ana­ly­se / Kommentare
Der vor­lie­gen­de kur­ze Aus­zug aus dem Roman „Bekenntnisse des Hoch­stap­lers Felix Krull“, geschrie­ben von Tho­mas Mann, wird durch die Ich-Per­spek­ti­ve geprägt.
Der fik­ti­ve Ich-Erzäh­ler gestal­tet stel­len­wei­se den zeit­li­chen Auf­bau der Hand­lung, z.B. wenn er sich selbst zur Räson ruft „nicht mehr vorzugereifen“ (Z.21). Er kon­sta­tiert, sich bei sei­ner eige­nen Geburt „untätig und teilnahmslos“ (Z.25) ver­hal­ten zu haben. Sich erzäh­le­risch noch in der Ver­gan­gen­heit befin­dend, beschreibt er in eine Welt zu gelan­gen, die er „später so innig lie­ben sollte“ (Z.27).
Gene­rell ver­fügt der Ich-Erzäh­ler über detail­lier­tes Wis­sen zu sei­ner Umwelt (Z.17 ff.) oder den sozia­len Bezie­hun­gen inner­halb sei­ner Fami­lie (Z.14 ff.).
Auch wenn es Text­stel­len gibt, in denen der Erzäh­ler sehr auf die eige­ne Per­son zurück­ge­wor­fen ist (Z.2 ff.) über­wie­gen den­noch die Pha­sen, in denen er aktiv Ein­fluss auf das Gesche­hen nimmt und den Ablauf der Hand­lung beein­flusst. Sei­ne Wert­ur­tei­le sind geeig­net, die Wahr­neh­mung des Lesers zu lenken.
Klas­sisch han­delt es sich dabei um Ele­men­te einer aukt­oria­len Erzähl­wei­se. Der Ich-Erzäh­ler weist in sei­nem Han­deln über sich als Per­son hin­aus und erweckt ledig­lich die Fik­ti­on des per­so­na­len Erzählens.
Die­ses im gewis­sen Maß mani­pu­la­ti­ve Vor­ge­hen des aukt­oria­len Ich-Erzäh­lers lässt sich dem Ver­hal­ten  eines Hoch­stap­lers zuschrei­ben. Dies wäre durch eine wei­te­re Ana­ly­se des Tex­tes zu prüfen.

Es kam natür­lich die ein oder ande­re kri­ti­sche Äuße­rung, aber es war ins­ge­samt eigent­lich gar nicht so schlimm. Die Ergeb­nis­se haben wir kurz aus­ge­wer­tet, um dann ein­mal zu ver­su­chen, mei­ne Ver­si­on als Scha­blo­ne auf einen ande­ren Romanau­schnitt zu legen. Die­ser wies einen eher per­so­nal gepräg­ten Ich-Erzäh­ler auf.

Als drit­te Stu­fe (Haus­auf­ga­be) gab es einen Input zu den Begrif­fen Erzähl­zeit und erzähl­te Zeit. Unter die­sen Aspek­ten soll nun wie­der­um einer der bei­den Roman­aus­schnit­te ana­ly­siert werden.

Ich habe auch schon ein­mal eine Kurz­ge­schich­te selbst ver­fasst und als Klas­sen­ar­beits­text gege­ben, kam mir dabei aber irgend­wie blöd vor. Eigent­lich ver­wun­der­lich: Immer­hin tren­nen mich nur vier Wochen und eine gepimp­te Staats­examens­ar­beit vom dama­li­gen Magis­ter – da soll­te man doch wohl schrei­ben können …

Und sie waren tatsächlich da …

chemie4kids-pixeled

Von dem Bild bekommt man einen guten Ein­druck von dem Besuch der Kin­der­gar­ten­kin­der bei uns im Che­mie­kurs (rei­ner Abde­cker­er­gän­zungs­kurs, kein Cur­ri­cu­lum). Das Bild ist übri­gens mit einer GOPRO-Action­ka­me­ra gemacht (sowas hält unser Medi­en­zen­trum für die akti­ve Medi­en­ar­beit in der Schu­le bereit).  Mein Kurs hat selbst Expe­ri­men­te für Kin­der erar­bei­tet – dabei stand im Mit­tel­punkt, dass es nicht um die lei­der immer mehr didak­ti­schen Raum ein­neh­men­de Phä­no­me­no­lo­gie gehen soll, son­dern um Deu­tun­gen, die für Kin­der ver­steh­bar sind.

Adhä­si­on bei der Chro­ma­to­gra­phie kann man z.B. modell­haft durch Kin­der erklä­ren, die von ande­ren Kin­der gescho­ben wer­den – mal auf einem Bein ste­hend, mal auf zwei Bei­nen ste­hend. Das Lauf­mit­tel (das schie­ben­de Kind) kann das Farb­stoff­teil­chen (das gescho­be­nen Kind) unter­schied­lich gut bewe­gen. In sol­chen ver­meint­li­chen Details steckt sehr viel Denk­ar­beit (nicht mei­ne!): Die Erklä­rung ist nicht über die Maßen sim­pli­fi­ziert, ermög­lich aber trotz­dem eine in Grund­zü­gen kor­rek­te Vor­stel­lung von einem Teil­be­reich der sich tat­säch­lich abspie­len­den Vorgänge.

Neben der Schul­lei­te­rin waren auch Ver­tre­ter der ört­li­chen Lokal­zei­tun­gen zeit­wei­se anwe­send – die Inter­views haben natür­lich die Schü­le­rin­nen und Schü­ler selbst gege­ben. Die resul­tie­ren­den Arti­kel in den Zei­tun­gen haben mir bei­de sehr gut gefal­len. Für mich ist die­se „Ver­mark­tung“ rela­ti­ves Neu­land – die Akti­on selbst ist ja schon ein Remake. Den Schü­le­rin­nen und Schü­lern war die Öffent­lich­keit aber gar nicht so wich­tig – zumin­dest hat das unse­re klei­ne Eva­lua­ti­on hin­ter­her erge­ben. Die Atmo­sphä­re wäh­rend der Ver­an­stal­tung war so, dass fast alle Erwach­se­nen, die von außen kamen, lan­ge geblie­ben sind – es gab unglaub­lich viel zu schau­en, zu hören und zu erle­ben, z.B. sehr fokus­sier­te und gespann­te Kinder.

Ein Segen ist, dass ich Teil­neh­men­de aus der Video-AG mit in mei­nem Kurs sit­zen habe, die gemein­sam mit zusätz­lich frei­ge­stell­ten Schü­le­rin­nen die Doku­men­ta­ti­on über­nom­men habe. Ver­ti­kal­fahrt? GOPRO auf der Krei­de­ab­la­ge der Pylo­nen­ta­fel. Hori­zon­tal­fahrt? GOPRO auf fahr­ba­rem Over­head­pro­jek­tor (zu etwas müs­sen sie ja gut sein). Wack­ler? „Die GOPRO macht 4K – das kann man genau wie die opti­sche Ver­zer­rung durch den extre­men Weit­win­kel her­aus­rech­nen, Herr Riecken!“

Und wie geht es wei­ter? Zunächst habe ich fast sowas wie einen didak­ti­schen Kaper­brief bekom­men. Das Niveau von vie­len Erklär­vi­de­os (auch kom­mer­zi­el­len) gefällt mei­nen Schü­le­rin­nen und Schü­lern nicht. „Nä, das ist tech­nisch nicht gut gemacht, Herr Riecken!“ „Die Idee ist ja schon nett, aber die dra­ma­tur­gi­sche Umset­zung … !“ Und ich: „Fach­lich stimmt da und da aber etwas nicht!“. Der Kurs hat beschlos­sen, das bes­ser zu kön­nen. Nun denn. Ein neu­es Pro­jekt in einem neu­en Halb­jahr, dies­mal akti­ve Medi­en­ar­beit gepaart mit erhöh­tem fach­li­chen Anspruch. Ich weiß noch nicht ganz genau, wie ich das ange­he. Ich könn­te mir gut vor­stel­len, z.B. im Bereich der Koh­len­hy­dra­te – das eig­net sich sehr gut für Erklär­vi­de­os – zunächst in einen Input­pha­se zu gehen, um inhalt­li­che Ori­en­tie­rung zu schaf­fen, um dann dies­mal die SuS eige­ne Pro­jekt­pla­nun­gen (Zeit­ras­ter, Mile­sto­nes) ent­wi­ckeln zu las­sen. Aber das wird noch bis zum neu­en Jahr reifen.

Projekt mit dem Waldkindergarten (reloaded)

Ich habe in die­sem Jahr wie­der einen poly­va­len­ten Che­mie­kurs. Das ist ein etwas selt­sa­mes Kon­strukt: Pri­mär geht es um Che­mie, jedoch sol­len auch Inhal­te ande­rer Natur­wis­sen­schaf­ten ein­flie­ßen und es darf nichts aus dem Ober­stu­fen­cur­ri­cu­lum Che­mie behan­delt wer­den. Über­haupt ist die­ser Kurs eine kom­plett cur­ri­cu­lums­freie Lehr­kraf­ter­ho­lungs­zo­ne. Er dient ledig­lich dazu, dass SuS, die bestimm­te Ober­stu­fen­pro­fi­le gewählt haben, ihre Bele­gungs­pflich­ten für das Abitur erfül­len kön­nen – wir sagen dazu „Abde­cker­kurs“. Gleich­wohl sind Noten zu erteilen.

Ich habe den SuS vier Inhal­te ange­bo­ten, u.a. eine Wie­der­be­le­bung mei­nes alten Wald­kin­der­gar­ten­pro­jek­tes, wel­ches kon­kur­renz­los von allen prä­fe­riert wurde.

Da ich mit dem Ablauf damals nicht so ganz zufrie­den war, las­se ich in die­sem Jahr eini­ge Ele­men­te aus dem klas­si­schen Pro­jekt­ma­nage­ment und mei­ne Erfah­run­gen mit Wikis aus dem letz­ten Jahr mit ein­flie­ßen, aber nicht zu viel, um die Trans­ak­ti­ons­kos­ten mög­lichst erträg­lich zu hal­ten – so gebe ich z.B. den ange­speck­ten Pro­jekt­ab­lauf­plan weit­ge­hend vor.

Das sieht dann so aus:

Wochen­tag Dop­pel­stun­de Inhalt
Frei­tag 1 Expe­ri­ment­aus­wahl, Projektaufräge
Frei­tag 2 M1: Pro­jekt­auf­trä­ge vor­stel­len, Mate­ri­al- und Gerä­te­lis­te erstellen
Mitt­woch 3 Expe­ri­ment selbst durch­füh­ren, ggf. optimieren
Frei­tag 4 Fei­er­tag
Frei­tag 5 Expe­ri­ment selbst durch­füh­ren, ggf. optimieren
Mitt­woch 6 Beschrei­bung zum Ver­suchs­auf­bau erstellen
Frei­tag 7 Beschrei­bung zum Ver­suchs­auf­bau erstellen
Frei­tag 8 M2: Abga­be Beschrei­bung zum Versuchsaufbau
Mitt­woch 9 Prä­sen­ta­ti­on für den Kurs Grup­pe A
Frei­tag 10 Prä­sen­ta­ti­on für den Kurs Grup­pe B
Frei­tag 11 Prä­sen­ta­ti­on für den Kurs Grup­pe C
Frei­tag 12 Opti­mie­rung und Bezü­ge zu ande­ren Experimenten
Mitt­woch 13 Opti­mie­rung und Bezü­ge zu ande­ren Experimenten
Frei­tag 14 M3: Wald­kin­der­gar­ten­be­such
Frei­tag 15 Aus­wer­tung und Feedback
Mitt­woch 16 Über­ar­bei­tung Beschreibungen
Frei­tag 17 Über­ar­bei­tung, weih­nacht­li­cher Abschluss
Mitt­woch 18
Frei­tag 19
Mitt­woch 20
Frei­tag 21
Frei­tag 22
Mitt­woch 23

 

Zwei Dop­pel­stun­den hat­ten wir schon (nor­ma­ler­wei­se steht da ein Datum). Wer noch nie einen Pro­jekt­auf­trag gese­hen hat, fin­det hier eine Vor­la­ge. In Fett­druck sind die Mei­len­stei­ne bezeich­net – die­se geben mehr oder weni­ger vor, bis zu wel­chen Zeit­punkt ein Zwi­schen­ziel erreicht sein muss. Ein Pro­jekt­auf­trag ist eine gute Grund­la­ge, um sich dar­über klar zu wer­den, was man über­haupt mit einem Pro­jekt errei­chen möch­te. Vor allem die Pro­jekt­ri­si­ken sind dabei für mich von beson­de­rem Inter­es­se – mög­li­che Risi­ken sind z.B.:

  • Moti­va­ti­ons­ver­lust
  • Unter­schied­li­ches Enga­ge­ment in der Kleingruppe
  • fach­li­che Überforderung
  • […]

Man kann dann im Vor­we­ge dar­über reden, wie man den Risi­ken begeg­net (die SuS haben viel Erfah­rung mit gelun­ge­nen und weni­ger gelun­ge­nen Gruppenarbeitsprozessen).

Die in der ers­ten Pha­se zen­tra­le Beschrei­bung des Ver­su­ches besitzt fol­gen­de Struktur:

  • Grup­pen­mit­glie­der
  • Pro­jekt­auf­trag (Ver­lin­kung auf Datei)
  • Benö­tig­te Geräte
  • Benö­tig­te Chemikalien
  • Durch­füh­rung
  • Doku­men­ta­ti­on der eige­nen Durchführung
  • Theo­re­ti­scher Hin­ter­grund (gym­na­si­al)
  • War­um ist das Expe­ri­ment für Kin­der geeignet?
  • Kind­ge­rech­te Erklärung
  • Was kann das Kind bei dem Expe­ri­ment über Che­mie lernen?

Es wird im Unter­richt immer ein fes­tes Ritu­al in Form eines Ple­nums geben, in dem die Grup­pen fol­gen­de Aspek­te berichten:

  1. Was haben wir heu­te erreicht?
  2. Wel­che Pro­ble­me gab es dabei?
  3. Was ist in nächs­ten Zeit zu erledigen?

In der Prä­sen­ta­ti­ons­pha­se schlüpft das Ple­num in die Rol­le von Kin­der­gar­ten­kin­dern und Beob­ach­tern, wäh­rend jeweils ein Expe­ri­ment tat­säch­lich durch­ge­führt wird. Dabei tau­chen erfah­rungs­ge­mäß Pro­ble­me auf, an die auch ich vor­her nicht gedacht hät­te – vor allem auch Koope­ra­ti­ons­mög­lich­kei­ten zwi­schen Gruppen.

Nach dem Besuch der Kin­der erfolgt eine letz­te Refle­xi­on, die fol­gen­de Ele­men­te umfasst:

  • Rück­mel­dung der Kin­der (muss auch vor­be­rei­tet werden)
  • Rück­mel­dung der Kurs­teil­ge­ben­den an mich und mei­nen Unterrichtsstil
  • Über­le­gun­gen zur Wei­ter­ar­beit, z.B. mit Grundschulkindern

Gesam­melt und erle­digt wer­den alle Arbeits­schrit­te in einem nicht­öf­fent­li­chen Doku­Wi­ki. Uns ste­hen in der Che­mie acht Lap­tops für die ernst­haf­te Arbeit und eini­ge Nexus7-Tablets für Recher­che und Zuar­beit zur Ver­fü­gung. Natür­lich gibt es LAN- und WLAN-Ver­sor­gung, sodass auf Tot­holz weit­ge­hend ver­zich­tet wer­den kann.

 

 

 

Selbständigkeit und Alleinelassen

Ihr sucht euch jetzt ein­mal ein The­ma, wel­ches euch inter­es­siert und macht dar­aus ein Pro­jekt!“ „Ich gebe euch für eure Pro­jekt­grup­pe einen Punk­te­pool und ihr ent­schei­det in der Grup­pe selbst, wie vie­le Punk­te jeder von euch erhält!“ „Du bekommst als Schu­le ein Bud­get, aus dem du zuerst Fahrt­kos­ten und Fort­bil­dungs­kos­ten finan­zie­ren musst. Den Rest darfst du für ande­re Din­ge ein­set­zen!“ „Jede Schu­le muss selbst eige­ne Ver­fah­rens­be­schrei­bun­gen und Nut­zer­ord­nun­gen zum Daten­schutz erar­bei­ten!“ „Dei­ne schu­li­sche Arbeit sam­melst du in einem Port­fo­lio und über­prüfst lau­fend selbst, wel­che Kom­pe­tenz­be­rei­che du bereits abge­deckt hast!“ „Du hast von mir ein Han­dy bekom­men. Jetzt gehe mal ver­ant­wor­tungs­voll damit um!“ „Regen ist kein Grund, dass ich dich zur Schu­le fah­re!“ „Erar­bei­te mal selbst, was für Gerä­te in dei­nem Schul­netz­werk benö­tigt werden!“

Die­se Lis­te lie­ße sich belie­big fort­set­zen. Ich glau­be, dass sie ein päd­ago­gi­sches Grund­pro­blem beschreibt. Bei mir ist das so stark im Fokus, weil ich damit her­um­ex­pe­ri­men­tie­re, mei­nen Unter­richt ein wenig mehr zu öff­nen und damit so mei­ne Erfah­run­gen gemacht habe. Befür­wor­ter des offe­nen Unter­richt gehen nach mei­ner Mei­nung von einem ganz bestimm­ten Men­schen­bild aus, was mehr oder weni­ger stark aus Arti­keln und SoMe-Posts her­aus­schim­mert. Kern­punk­te die­ses Men­schen­bil­des sind:

  • Men­schen wol­len lernen
  • Men­schen wol­len hin­sicht­lich der Aus­wahl des Lern­stof­fes nicht bevor­mun­det werden
  • Men­schen sind von Natur aus neugierig
  • Men­schen wis­sen selbst am bes­ten, was gut für sie ist
  • Men­schen blü­hen auf, wenn man ihnen Frei­räu­me gibt

Schu­le in Deutsch­land wird dage­gen oft als ein fast kom­ple­men­tä­rer Raum dazu auf­ge­fasst, denn

  • Schu­le macht aus dem Wol­len ein Müssen
  • Schu­le bevor­mun­det hin­sicht­lich der Stoffauswahl
  • Schu­le weckt und beför­dert nicht die Neugier
  • Schu­le maßt sich an zu wis­sen, was für einen guten Staats­bür­ger wich­tig ist
  • Schu­le schafft kei­ne Frei­räu­me, son­dern Zwang
  • Und – fast am wich­tigs­ten: Schu­le macht das posi­ti­ve Men­schen­bild von oben kaputt.

Bei­de Ste­reo­ty­pe erle­be ich nicht so, weder das posi­ti­ve Men­schen­bild, noch die Rigi­di­tät und Enge des Schul­sys­tems. Und das ist nicht böse – halt ein­mal mehr nicht Mainstream.

Ein Bei­spiel aus mei­nem Ardui­no­ex­pe­ri­ment die­ses Jahr in der letz­ten Pha­se („Pro­jekt­pha­se“). Es gibt Schü­le­rin­nen und Schü­ler, die nicht wis­sen, was sie inhalt­lich inter­es­siert und die man schon bei der Fin­dung die­ser Idee beglei­ten muss. Eini­ge sind sogar froh, wenn ich sage: „Mach’s mal so – so schaffst du das!“. Anders­her­um gibt es groß­ar­ti­ge Ideen, die sich aber mit dem Wis­sen und den Mög­lich­kei­ten des jewei­li­gen Schü­lers gar nicht umset­zen las­sen – wo er ohne Len­kung und Hil­fe in den Wald lie­fe und eben kein Erfolgs­er­leb­nis hät­te. Wo ver­läuft also die Gren­ze zwi­schen Allei­n­elas­sen und Selbst­stän­dig­keit? Wahr­schein­lich indi­vi­du­ell und mein Job als Lehr­per­son ist es, die­se Gren­ze zu zie­hen, weil ich ver­dammt noch­mal auf­grund mei­ner Erfah­rung manch­mal eben bes­ser weiß, was klap­pen könnte.

Ein wei­te­res Bei­spiel aus dem Bereich der Pro­jekt­ar­beit: Man gibt der Grup­pe aus fünf Mit­glie­dern 30 Punk­te, die sie dann selbst auf die Grup­pen­mit­glie­der ver­tei­len sol­len, weil die Grup­pe ja am bes­ten weiß, wer sich wie ein­ge­bracht hat. Das ist ver­lo­ckend, weil man so die unan­ge­neh­me Beno­tungs­an­ge­le­gen­heit in die Grup­pe ver­schiebt. Dadurch bleibt die Ange­le­gen­heit nur immer noch unan­ge­nehm (die Bewer­tung steht ja immer­hin im nicht refor­mier­ten Raum „Schu­le“) – nur ich als Lehr­per­son bin aus dem Schnei­der, weil ich den schwar­zen Peter ver­la­ge­re. Mich unbe­liebt zu machen, ist ggf. mein Job. Ich gebe die Note und orga­ni­sie­re die Grup­pen­ar­beit und mich  ggf. so, dass ich das kann. Alles ande­re wäre für mich kei­ne Selbst­stän­dig­keit, son­dern ein Allei­n­elas­sen. Tat­säch­lich ist das ziem­lich ein­fach, da ich nach mei­nen bis­he­ri­ge Erfah­run­gen in indi­vi­du­el­len Bera­tungs­si­tua­ti­on bei Pro­jek­ten sehr viel mehr mit­be­kom­me als im sons­ti­gen klas­si­schen Unterricht.

Als Dienst­herr könn­te ich auf die Idee kom­men zu sagen, dass ab jetzt Schu­len in bestimm­ten Berei­chen selbst­stän­dig sind. Hört sich zunächst pri­ma an. Dass damit so Din­ge ein­her­ge­hen, u.U. selbst Arbeits­ver­trä­ge mit Anbie­tern für den Ganz­tags­be­reich aus­ar­bei­ten zu müs­sen, Ver­fah­rens­be­schrei­bun­gen zum Daten­schutz zu erstel­len usw., ist eine ande­re Sei­te der Medail­le. Damit dürf­ten Schu­len schlicht über­for­dert sein, da ihnen dazu die Rechts­ab­tei­lung fehlt, die ein Dienst­herr zwangs­läu­fig hat. Ok – das Know-How kann sich jede Schu­le ja ein­kau­fen – nur ist das effek­tiv, wenn das jede Schu­le ein­zeln macht, und mit den zur Ver­fü­gung ste­hen­den Mit­teln rea­li­sier­bar? Zum Glück käme der Dienst­herr ja gar nicht auf sol­che Ideen.

Mei­ne Hypo­the­se ist, dass so man­che selbst­stän­di­ge Arbeits­form Schü­le­rin­nen und Schü­ler schlicht über­for­dert – allein die Auf­ga­be her­aus­zu­fin­den, was mich – mich ganz allein und per­sön­lich – wirk­lich inter­es­siert, ist schon ein Anspruch. Ande­rer­seits emp­fin­de ich es so, dass wir an ande­re Stel­len Schü­le­rin­nen und Schü­lern Erfah­run­gen an Stel­len neh­men, die sie durch­aus machen dür­fen. Man stirbt z.B. nicht, wenn man in Regen­ja­cke zur Schu­le fährt und man stirbt auch nicht dar­an, ein Fahr­rad mit einem Plat­ten nach Hau­se zu schie­ben. Es ist zumut­bar, Essen vor­ge­setzt zu bekom­men, was nicht Mami gekocht hat.

Wo las­sen wir als Gesell­schaft jun­ge Men­schen allei­ne und wo trau­en wir ihnen Selbst­stän­dig­keit zu?

 

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