Mebis ist vor den Weihnachtsferien unter der Last der Nutzeranfragen zusammengebrochen. Das hat viele Nachfragen ausgelöst und Wasser auf die
Warum bekommen es die Kultusministerien es einfach nicht hin mit den Schulclouds?
Mebis ist vor den Weihnachtsferien unter der Last der Nutzeranfragen zusammengebrochen. Das hat viele Nachfragen ausgelöst und Wasser auf die Mühlen derjenigen laufen lassen, die proprietäre Lösungen wie MS-Teams bevorzugen: „Siehste, die Kultusministerien bekommen es nicht auf die Reihe!“ Ich möchte in diesem Artikel einmal eine Lanze brechen für die Situation, in denen sich Fachreferate in Kultusministerien befinden und vor welchen Aufgaben sie stehen, wenn man wirklich eine Plattform landesweit zur Verfügung stellen möchte.
Shortread
- Fachpersonal mit IT-Kompetenz ist im öffentlichen Bereich rar. Wer hier etwas erreichen und kreativ oder pragmatisch sein möchte, muss oft Entscheidungen treffen und Menschen blind vertrauen, die er/sie zunächst nicht versteht. Man braucht Mut zum Handeln. Der wird aber nicht belohnt – schon gar nicht von der Öffentlichkeit (s.u.).
- Handelt man einfach und setzt um, kommen mit Sicherheit kritische Nachfragen zum Ausschreibungsrecht. Das ist momentan kaum einzuhalten. Bei den Summen, von denen wir reden, kommen wir zumindest mit dem Anspruch „landesweit“ immer in die europaweite Ausschreibung. Wenn man es ganz eng am Auschreibungsrecht macht, muss man offen ausschreiben und kann das spätere Produkt nur in Grenzen vorherbestimmen.
- Beachtet man das Ausschreibungsrecht, kommen mit Sicherheit kritische Nachfragen zum Thema Datenschutz. Der technisierte Schulbetrieb auf Distanz stellt ohne transparent und demokratisch verabschiedete gesetzliche Regelungen für manche Kritiker per se „einen schweren Grundrechtseingriff“ dar. Dass Schule, die gar nicht stattfindet, auch Grundrechte berühren könnte, ist bei den Nachfragenden oft nicht so entscheidend – auch nicht, dass beim Betrieb durch die öffentliche Hand Daten in der öffentlichen Hand verbleiben und Formalia im Prinzip nachgeholt werden könnten.
- Beachtet man das Ausschreibungsrecht und Datenschutzrecht kommen kritische Nachfragen zur Einbindung der Betroffenen in den Entscheidungsprozess. Die Berücksichtigung von Datenschutzaspekten schränkt technische Möglichkeiten erheblich ein. Die Lösungen, die dabei herauskommen müssen, werden fast zwangsläufig pädagogisch unbefriedigend sein.
Das kann man alles berücksichtigen und machen. Es dauert aber Jahre. Die Ministerien können also handeln und dafür öffentlich „auf die Fresse“ bekommen oder sie können die notwendigen Schritte für eine transparente und rechtsfeste Umsetzung gehen und für ihre Langsamkeit „auf die Fresse“ bekommen.
Ja, das hätte man ggf. weit früher in Angriff nehmen müssen. Hat man aber nicht. Dafür gibt es ja auch berechtigt „auf die Fresse“. Aber helfen tut das auch nicht gerade.
Der Ausweg: Man handelt jetzt systemlogisch m.E. oft gerade so, dass man sich nicht dem Untätigkeitsvorwurf aussetzen muss, aber auch nicht zu viel Geld versenkt, was man dann später verantworten muss. Das diese oftmals „Verlegenheitslösungen“ im Betrieb mit allen Schüler:innen nicht standhält, ist langfristig besser verantwortbar, als wenn man gleich sehr viel Geld investiert hätte. „Es waren halt die Umstände!“
Longread
Schauen wir uns mal Moodle an und tun wir so, als wollten für das landesweit ausrollen. Daran lässt sich ganz hübsch die gesamte Bandbreite an Herausforderungen zeigen:
Moodle ist erstmal so eine Art Programm. Eigentlich noch viel weniger. Es ist viel mehr ein Text mit vielen Anweisungen. Dieser Text muss von einem Übersetzer („Interpreter“) in etwas übersetzt werden, was ein Browser wie Firefox oder Chrome anzeigen kann. Das nennt man „Seitenquelltext“ und den kann man sich anzeigen lassen, wenn man auf einer Internetseite die rechte Maustaste drückt und „Seitenquelltext anzeigen“ auswählt. Dieser Seitenquelltext wird von einem weiteren, diesmal echten Programm („Webserver“) an den Browser bzw. Anwender ausgeliefert. Für das Prozedere braucht man primär einen schnellen Prozessor (CPU). Etwas Hauptspeicher (RAM) gehört auch dazu.
Damit Moodle Daten speichern und ausgeben kann, wird ein Datenbanksystem (DBMS) verwendet. Das ist ein Programm, welchen Daten sehr effizient speichern und i.d.R. noch viel effizienter wieder ausgeben kann. Das klappt besonders gut, wenn die Daten möglichst vollständig im Hauptspeicher (RAM) liegen. Selbst eine SSD ist deutlich langsamer beim Zugriff.
Große Dateien lassen sich nicht sinnvoll in einem Datenbanksystem ablegen. Moodle legt nur Verweise (Links) in seine Datenbank, die dem Moodlecode sagen, wo ein Bild oder eine PDF-Datei zu finden ist. Dateien werden in Storages gelagert. Für den RAM wären sie schlicht zu groß. Storages können SSDs (teuer) oder normale Festplatten (günstig) sein. Moodle verschlüsselt aber seine Dateien. Zum Ver- und Entschlüsseln braucht man wiederum CPU-Leistung. RAM zum Ausliefern braucht man verhältnismäßig wenig, da Dateien in kleinen Portionen und nicht vollständig verschickt werden.
Wenn man Moodle selbst aufsetzt, wird man i.d.R. sowas bauen:
Alle drei Komponenten laufen auf dem gleichen Server und konkurrieren dann um CPU, RAM und Storage. Man kann für 50,- Euro Server mieten, die für 800‑1000 Schüler:innen ausreichen. Allerdings kommt es sehr stark auf die Nutzung an: Wenn man vorwiegend Kurse baut, in denen lediglich Aufgaben und PDFs koexistieren, klappt das spielend. Die dazu nötigen Abfragen sind harmlos. Wenn aber z.B. das Testmodul oder der Chat exzessiver genutzt werden, kann es schnell aus sein mit der Freude an der tollen Funktion. Dann muss man den nächstgrößeren Server kaufen oder herumoptimieren (mehr als 15–20% holt man damit aber nach meiner Erfahrung nicht raus).
Ich bin davon überzeugt, dass alle Installationen von Moodle auch auf Landesebene genau so angefangen haben: Erst mal einen Testserver aufsetzen und schauen, wie der Betrieb so läuft.
Das Spiel „Hardware upgraden“ ist aber irgendwann zu Ende: Wenn viele Anfragen hereinkommen, startet der Webserver mehr Interpreter. Diese produzieren dann mehr Anfragen an das Datenbanksystem. Und sie belegen mehr RAM.
Der Moodleserver fängt an zu sterben, wenn die Daten aus der Datenbank nicht mehr in den Hauptspeicher passen. Dann kommen diese Daten auf die langsame Festplatte. Dadurch stauen sich Anfragen, die das DBMS unter normalen Umständen spielend bewältigt hätte und immer mehr Interpreter müssen warten und werden nicht beendet. Wenn RAM und Auslagerungsspeicher voll sind, werden die Überlebensinstinkte des Betriebssystems geweckt. Dieses beginnt nun damit, Interpreter zu beenden, um wieder RAM frei zu bekommen. Die Anfragen an diese Interpreter laufen nun ins Nirwana und es geht für den Nutzer entweder ins Nirwana (Connection timed out) oder mit einem letzten Lebenszeichen in den Kurort (500 – Bad Gateway). Ein Absturz ist das technisch gesehen nicht. Das System selbst funktioniert ja noch, tut aber nicht das, was es soll.
Was tun?
Eine simple Möglichkeit besteht darin, die Arbeit einfach auf mehrere Server zu verteilen. Das geht mit diesem einfachen Verfahren, wenn Schulen jeweils eigene Moodlesysteme erhalten sollen,
Wenn man merkt, dass ein Server überlastet ist, schiebt man die entsprechende Schule einfach auf einen neuen. Man kann auch Schulen, die nicht viel Last erzeugen, mit mehreren anderen auf einen Server packen. Kommen neue Schulen, kauft man neue Server dazu.
Ich baue davor gerne noch einen Proxy. Ein Proxy speichert Seiten, die schon einmal von Moodle gebaut worden sind in seinem Speicher als Kopie. Wenn ein Anwender wieder genau diese Seite anfordern, muss man nicht den Moodleserver selbst damit behelligen. Die einzelnen Moodleserver machen dabei immer noch alles gleichzeitig: Moodlecode + DBMS + Storage.
Für so ein Setup muss man erheblich mehr können als beim ersten. Vor allem beim Überwachen der Server. Und man sollte z.B. das Verschieben einer Schule auf einen anderen Server tunlichst automatisieren. Sich einen Rootserver mieten und mit einem Verwaltungstool Moodle zu installieren reichen dann nicht mehr. Trotzdem ist das Setup sehr simpel, da die Moodlesserver für sich selbstständig arbeiten. Den Proxy kann man z.B. durch Failover-IPs im Notfall als „single point of failure“ automatisch eliminieren.
Ich wette, dass auch auf Landesebene das oft die erste Eskalationsstufe ist, weil man solche Setups selbst als Laie noch mit eigenen Mitteln hinbekommt.
Mebis hat noch mehr Probleme
Mebis ist eine zentrale Installation. Es gibt keine Segmentierung in Einzelmoodlesysteme für Schulen. Wildes Herumgeschiebe der Schulen ist nicht möglich. Also muss man noch eine Schippe Komplexität drauflegen und jetzt wirklich skalieren.
Man trennt jetzt keine Moodlessysteme – das geht ja auch gar nicht. Man trennt die einzelnen Komponenten wie Moodlecode, DBMS und Storage auf. Man kann dadurch die einzelnen Server auf ihre Aufgabe hin optimieren. Für den Moodlecode viel CPU-Wumps, für die Datenbank viel Speicher. Und man kann Read-Only-Datenbanken vorhalten, aus den nur gelesen wird. Schreiboperationen bei Moodle sind vergleichsweise gering. Ein diesmal richtiger Loadbalancer entscheidet je nach Auslastung der CPU-Nodes, wohin die Anfrage geht. Wenn es nicht reicht, stellt man neue Server dazu. Wenn man es gut macht, beliebig viele. Für ein ganzes Bundesland wird man das über Rechenzentrumsgrenzen hinaus machen müssen. Und die Server müssen untereinander durch schnelle Verbindungen vernetzt sein. Die Daten müssen ja unter den DBMS- und Storage-Servern schnell aktualisiert werden Monitoring bleibt Pflicht. Und Backups. Und Desaster-Recovery.
Durch Automatisierung kann man schnell reagieren. Große Anbieter wie itslearning dürften vergleichbare Setups fahren und selbst die haben sich bezüglich der Anfragemenge beim Wechsel ins Schulszenario C offenbar stellenweise verkalkuliert.
Microsoft und Google stellen aller Wahrscheinlichkeit nach nicht mal mehr eigene Server für solche Aufgaben hin. Das wird so ziemlich alles in wirklich großen Rechenzentrum mit abertausenden von Maschinen virtualisiert sein. Bei einer drohenden Überlastung „bläst“ sich das System dann automatisiert auf.
Das Problem der Ausschreibung
Das letzte Setup kann man nicht durch eine beschränkte Ausschreibung (drei Vergleichsangebote) bekommen. Da geht es um mehr Taler. Das Teure ist weniger die später Skalierung (der Zubau an Servern). Das Teure ist der Gehirnschmalz, der in die Konzeption fließen muss. Schon für die Ausschreibung braucht man für das Lastenheft immense technische Kenntnisse. Wer bei der Konzeption einer Ausschreibung mitwirkt (und so jemanden wird man brauchen), darf übrigens später nicht mehr mitbieten.
Schon ein kleines Setup wird dadurch immens teuer. Rechnen tut sich eine solche Vorbereitung nur bei späteren Wachsen in die Breite. Daher wird man erst schlicht das Geld dafür nicht bekommen. Und wenn man es krisenbedingt dann doch bekommt, sind die Anbieter und IT-Spezialisten, die so etwas hochziehen könnten, auf wunderbare Weise mit Aufträgen ausgelastet.
Das ist Menschen mit begrenztem technischen Know-How nicht vermittelbar. Oder – wäre Corona nicht gekommen – wäre man in der Presse bitterböse verprügelt worden, dass man so viel Geld für ein so kleines Setup verballert hat.
Was wesentlich leichter daherkommt, ist die Ausschreibung eines spezifischen Produkts wie z.B. Microsoft Teams. Dafür dürften sogar extra Berater / Lobbyisten von Microsoft oder Apple oder … ins Haus kommen, die die Ministerien bei der Erstellung einer sachgerechten Ausschreibung „unterstützen“. Um das Ausschreibungsrecht einzuhalten, müssen das strenggenommen Mitarbeiter:innen einer „Tochter“ des Großunternehmens sein (s.u.).
Und natürlich ist diese Variante für die Fachreferate der Kultusministerien attraktiv!
Das Datenschutzproblem
Das einzige mir bekannte System, das in Zusammenarbeit mit einem Landesdatenschutzinstitut entwickelt worden ist, ist die niedersächsische Bildungscloud (NBC). Über die dadurch verbleibende Funktionalität mag sich jeder selbst ein Bild machen. Die NBC bzw. die darunterliegende HPI-Schulcloud ist unter starkem Beschuss hinsichtlich der Finanzierung – Ausschreibungsrecht halt.
Bei großen us-amerikanischen Anbietern ist die Datenschutzproblematik oft noch nicht geklärt. Schlägt ein Kultusministerium hier zu, gibt es öffentlichen Unmut. Deswegen ist der Datenschutz der erklärte Feind derjenigen, die schnell handeln und ebenso schnell zu einem funktionsfähigem System kommen wollen. Auf deren Seite stehen zurzeit viele Anwender, deren Anforderungen man eigentlich oft so zusammenfassen kann: „Wenn eine öffentlich finanzierte Cloud mir nicht das bieten kann, was mir MS-Teams bietet, dann ist sie nichts!“ Spoiler: Systeme, die den Datenschutz berücksichtigen, können das rein formal schon nicht.
Die „Gefahr“, die von großen Anbietern ausgeht, ist eine noch sehr abstrakte – wie etwa die Aussicht auf die zweite Coronawelle im August für die meisten Kultusministerien. Es ist absolut nicht abzuschätzen, was uns da bei der Verwendung von Schüler:innendaten durch das Silicon-Valley noch bevorstehen könnte. Das Vertrauen in reine Lernplattformanbieter ist da noch gefühlt größer – die werden ja auch niemals an Investoren verkauft werden, oder? Bei komplett offenen Systemen wie z.B. Moodle hat man als öffentliche Hand die volle Kontrolle und alle Probleme und Herausforderungen gegen sich.
Das Beteiligungsproblem
Gegen Anwender:innen, die eine Lösung mit ihren Features gewohnt sind, lässt sich schwer etwas durchsetzen, was technisch einen Rückschritt darstellt. Lehrmanagementsysteme sind hier viel besser geworden, aber eben immer noch nicht richtig gut. Außerdem gibt dann noch Leute wie mich, die große Schwierigkeiten mit Lehrmanagementsystemen haben. Apple, Microsoft, itslearning, die NBC und Moodle sind deshalb so erfolgreich, weil sie Schule so abbilden, wie Schule ist: Die Lehrkraft gibt die Strukturen bis hin zu „Laufwegen“ (Lernpfade) vor, die die Schüler:innen dann entlanglaufen. Man kann Lehrmanagementsysteme anders nutzen – nur braucht man sie dann eigentlich nicht mehr.
Onenote kann das gute, alte Schulheft technisch am allerbesten imitieren und zudem alle Hefte immer für die Lehrkraft verfügbar machen. Ob letzteres ein Vorteil ist, müsste man noch diskutieren. Für mich gibt nicht viel Übergriffigeres als ein Blick auf alle Bildschirme z.B. via Apple Classroom. Aber das entspricht den Anforderungen, die an Apple herangetragen werden.
Anwender:innen sind oft in Verbänden organisiert. Ein Verband ist immer das Gegenüber des Kultusministeriums bei Benehmensprozessen. Die Mitglieder werden gerade im Bereich der Anwendung digitaler Technologie extrem heterogen sein. Herzlichen Glückwunsch bei der Konsensfindung.
Das Qualifizierungsproblem
Um eine Schulcloud sinnvoll nutzen zu können, muss man in der Anwendung digitaler Werkzeuge kompetent sein. Lassen wir diesen Punkt lieber. Der Artikel ist eh schon zu lang.
Fazit
Schulclouds in der öffentlichen Hand zu entwickeln war auch schon vor Corona nicht so einfach. Die Kompromisslösungen können dem jetzigen Ansturm nicht gewachsen sein und auch nicht problemlos und unbürokratisch aufgepustet werden. Wenn ich ein Kultusministerium mit der Aufgabe einer schnellen Umsetzung beraten müsste, würde ich zu einem Fertigprodukt raten.
Formal sind viele Fachreferate in den MKs fit. Der Weg zu einem Lehrmanagementsystem in der öffentlichen Hand ist mehr als steinig: Technische Expertise, Ausschreibungsrecht, Beteiligungsverfahren – alles viel einfacher mit Lock-in-Lösungen, wie es Teams, itunes oder auch Webweaver oder itslearning oder <beliebiges Lehrmanagementsystem> nunmal so sind.
Moodle ist eine echte Ausnahme, weswegen ich den bayrischen Weg mit Mebis persönlich absolut klasse finde. Muss jetzt halt technisch nur noch laufen. Wenn es die Bayern nicht schaffen, ist die Weltordnung nicht nur in der Bundesliga außer Kraft gesetzt.
Entidentifizierung – eine Gefahr für „Bildung“ unter Coronabedingungen
Warum bin ich medienpädagogischer Berater? Warum bin ich das in Vollzeit? Warum bin ich nicht mehr in der Schule?
Jeder Mensch hat zwei Arbeitsverträge:
Der erste regelt das Formale. Wie viel Geld? Wie viele Stunden? Welche Spesen? Welcher Urlaubsanspruch? usw.
Der zweite regelt das Informelle:
Fühle ich mich an meinem Arbeitsplatz wohl? Kann ich die Ziele der Institution oder des Betriebes engagiert mittragen? Habe ich funktionierende soziale Netzwerke in meinem Arbeitskontext? Steht das, was ich in meine Arbeit „stecke“, in sinnvoller Relation zu der Wertschätzung, die mir auf der Arbeit u.a. von Vorgesetzten entgegengebracht wird?
Was Institutionen sowie Betriebe sehen und wahrnehmen, ist die Kündigung des ersten Arbeitsvertrages. Wenn das zu überhand nimmt, erfolgen spätestens Maßnahmen zur Organisationsentwicklung. Wenn diese gut ist, schaut sie auf den Zustand der „zweiten“, inneren Arbeitsverträge.
Schule ist besonders. Viele dort tätigen Lehrkräfte haben nach spätestens 10 Jahren keine sinnvolle Ausstiegsoption ohne das Risiko des Komplettverlustes der Altersversorgung. Auch vor diesem Hintergrund wäre es meines Erachtens sinnvoll, hier zukünftig umzudenken und die gesetzliche Rentenversicherung zumindest zu ermöglichen – auch den Beamt:innen. Die Möglichkeiten, sich innerhalb des Systems Schule neue Arbeitsfelder zu erschließen, sind sehr begrenzt.
(Randnotiz: Die Medienberatung nimmt offenbar an Attraktivität zu. Sehr viele sehr kluge und kompetente Menschen wollen zu uns. Das war einmal anders. Viele von ihnen wollten bisher lieber an Schule sein.)
Die innere Kündigung führt in Schule zur Ausbildung von Wohlfühlblasen: Ich umgebe mich mit Menschen, die zu mir passen. Ich schaffe mir Freiräume in meinem Unterricht (die ich aber oft nicht teilen darf, ohne mit dem umgebenden System zu kollidieren). Ich finde Strategien, um für mich sinnlose Situation zu überstehen und auszusitzen.
Eine Wohlfühlblase ist fragil, weil ihre Stabiltät und Verlässlichkeit nicht allein von mir bestimmt wird: Die Lieblingskolleg:in lässt sich versetzen. Ein bisheriges Herzensthema wird von Menschen übernommen, die sich mit meiner Vorarbeit innerhalb der Schulgemeinschaft profilieren – das kann ich nicht beeinflussen.
Kündigen Mitarbeitende innerlich, sind Werte und Ziele der Institution oder des Betriebes in Gefahr. In guten Organisationen identifizieren sich viele Mitarbeitende mit ihrer Einrichtung. Erst so werden gemeinsame Handlungen möglich – gerade im pädagogischen Bereich ist das immens wichtig für die Orientierung von z.B. Kindern und Jugendlichen.
Das Gemeinsame stirbt durch den Prozess der Entidentifizierung und weicht der Konkurrenz und dem Kampf der Wohlfühlblasen unter- und miteinander.
Ich stelle mir gerade helle Köpfe in den Kultusministerien vor, bzw. muss ich mir sie gar nicht vorstellen – ich kenne tatsächlich eine ganze Anzahl hier in Niedersachsen. Ich stelle mir vor, dass es dort sehr gute Ideen über die Entwicklung von Schule in der Zukunft gibt.
Welche Erfahrungen machen gerade Lehrkräfte bei der „Coronastrategie für Schulen“ – das muss man sich immer klarmachen – mit Teilen(!) der an Kultusministerium tätigen Menschen und der Politik? Ich glaube, dass es zur Zeit viele politische Entscheidungen gibt, die Lehrkräfte von dem System entfremden, was sie bisher vielleicht noch leidlich unterstützend im Hintergrund wahrgenommen haben.
Helle Köpfe in Kultusstrukturen werden es nach Corona sehr schwer haben, Vertrauen aufzubauen – weil ich vermute, dass sich viele Lehrkräfte von ihrem Dienstherrn bzw. den dahinterliegenden Strukturen gerade entidentifzieren. Die Mutigen kritisieren öffentlich – das hat es in dieser Ausprägung in meiner gesamten Amtszeit noch nicht gegeben, obwohl es bei anderen Themen Schieflagen gab: Chancengerechtigkeit, Inklusion etc..
Ich sehe viel Erschöpfung. Die gefährlichste Erschöpfung für eine Organisation ist langfristig die, die heute zu Resignation führt: „Von oben ist nichts zu erwarten. Ich muss den Schüler:innen gerecht werden, dafür brenne ich, dafür brauche ich meine Kraft!“ Das sagt niemand, aber ich bilde mir ein, genau das zu spüren. Die öffentlich Kritischen haben ein Ventil. Die stehen notfalls auch alleine aufrecht. Die Kultusbürokratie täte m.E. sehr gut daran, da hinzuhören und ins direkte Gespräch zu gehen – unter dem Schutz der Öffentlichkeit.
Ich bin privilegiert. Ich bekomme mein Geld ohne Abzüge. Deswegen habe ich auch die Verpflichtung, gerade jetzt besonders viel zurückzugeben. Aber wie weit darf das gehen? Die Grenze ist erreicht, wenn die eigene Gesundheit gefährdet ist. Und viele, die als Lehrkraft oder Schulleitung in der Mühle des Systems stecken, gehen momentan über diese Grenze hinaus. Schule braucht Menschen die brennen. Meine Kinder brauchen das. Identifikation halte ich für einen der maßgeblichen Brennstoffe überhaupt.
Persönliche Verschwörungstheorie
Im letzten Artikel hatte ich über Erfahrungen aus der Familienquarantäne geschrieben. Solche persönlichen Artikel sind für mich eher ungewöhnlich. Deswegen mache ich jetzt mal wieder etwas Kreatives. Es ist eine reine Fiktion.
Nichts hiervon ist belegbar oder stimmt.
Also ein fiktiver Text, wie ihn Verschwörungstheoretiker schreiben könnten.
Schulöffnungen maßgeblich für zweite Infektionswelle verantwortlich
Politiker:innen hielten wesentliche Informationen zurück, um Wirtschaft nicht zu gefährden
13.10.2021, Landkreis Dreieichen. Der Landkreis Dreieichen zählte vor einem Jahr zu den am meisten betroffenen Corona-Hotspots in Deutschland. Wie sich in der Rückschau herausstellt, gingen die Infektionsketten dabei von Kindern und Jugendlichen aus. Durch Schließungen von Schulen und Kindertagesstätten hätte sich das Ausmaß der Epidemie im Landkreis vermeiden lassen.
Hildegard Kempten (Name geändert) steht fassungslos vor dem Grab ihres im letzten Winter an den Folgen einer Coronainfektion verstorbenen Ehemannes. Jeder im Landkreis kennt jemanden, bei dem Familienmitglieder Opfer im Kreise der Familie zu beklagen hat. Der Landkreis zählte bis kurz vor den Herbstferien des letzten Jahres zu den nahezu coronafreien Gebieten. Niemand hatte damals mit dem immensen Einfluss von Kindern und Jugendlichen beim Infektionsgeschehen gerechnet. Prof. Nobert Einhaus von der örtlichen Klinik, Spezialist für Lungenkrankheiten, stellt heute resigniert fest: „Wir waren blind für atypische und asymptomatische Krankheitsverläufe bei jüngeren Patienten. Das muss man in der Rückschau deutlich feststellen.“ Der Landkreis Dreieichen zählt mit zu den jüngsten deutschlandweit. Das Virus hatte sich weitgehend unentdeckt unter jüngeren Menschen verbreitet, die damals mit einer Verzögerung von wenigen Wochen das Virus an ihre näheren Verwandten weitergegeben haben. Durch fehlende Testungen zu Anfang von Quarantänemaßnahmen war die Überzeugung bei den Verantwortlichen entstanden, dass Schulen und Kindergärten bei der Infektion eine untergeordnete Rolle spielen würden. „Da war in der Rückschau doch mehr der Wunsch der Vater des Gedankens“, gibt sich Einhaus nachdenklich: „Niemand wollte sich ernstlich dem Vorwurf aussetzen, durch erneute Schulschließungen das gesamte Wirtschaftsleben hier vor Ort zum Erliegen zu bringen und große Teile der Zivilgesellschaft über Gebühr zu belasten.“
Die weitere Entwicklung in Dreieichen sorgte genau dafür: Irgendwann war der Punkt erreicht, dass Schulen und Kindergärten schlicht aus Personalmangel doch die Tore schließen mussten: Erzieher:innen und Lehrkräften erkrankten reihenweise oder befanden sich in behördlicher Quarantäne. Die Auswirkungen kamen teilweise einem lokalen Lockdown gleich. Arbeitnehmer aus allen Bereichen des Wirtschaftslebens waren betroffen. Ganze Produktionen konnten nicht mehr aufrecht erhalten werden. „Irgendwann kam der Punkt, an dem wir auch mit unserem ganzen innerhalb des Landkreises querversetzten Personal die Kontakte nicht mehr nachverfolgen konnten“, sagt Bernd Siefke, Leiter der lokalen Gesundheitsamtes, ein bedächtiger, in sich gekehrter Mann. „Es waren keine Clusterereignisse mehr ausmachen wir beim ersten Fall innerhalb einer Familienfeier, das Virus war einfach überall, ohne erkennbares Muster.“ Der Landkreis Dreieichen hatte damals frühzeitig mit weit schärferen Verordnungen als vom Land aus vorgesehen reagiert und damit den ersten Infektionsherd innerhalb einer Gemeinde im Nordkreis erfolgreich bekämpft. Bemerkenswert: Es kam im Nordkreis durchaus zu behördlich angeordneten Schulschließungen.
Wie sich in der Rückschau herausstellte, war genau diese Reaktion entscheidend für die lokale Eindämmung. Da bei einigen Reihentests ca. 5–6 Tage nach Beginn der Schulschließungen nichts Wesentliches herauskam, war man sich sicher, hier richtig gehandelt zu haben. Heute weiß man: Die infektiöse Zeit bei Kindern und Jugendlichen ist bedeutet geringer als bei Erwachsenen. Der junge Organismus wird mit dem Virus in der Regel weitaus schneller fertig, so dass bereits zwei bis drei Tage nach einer asymptomatischen Infektion der damalige PCR-Test nicht mehr anschlug. Durch die frühzeitige häusliche Quarantäne konnte diese Kinder das Virus auch in den Familien kaum weitergeben.
Ganz anders die Entwicklung in der Kreisstadt: Die Schulen blieben im Wesentlichen geöffnet. Das Virus konnte sich weitgehend unentdeckt in der Schülerschaft verbreiten. Mit einer Verzögerung von ca. 1–2 Wochen erfasste es Eltern, Großeltern und Freunde der Familie, aber auch Lehrkräfte. Anders als zu Anfang der zweiten Welle schien das Virus nun aus der Mitte der Gesellschaft zu kommen. Die starke Korrelation zwischen der Anzahl der Kinder und der Anzahl der positiven Fälle innerhalb einer Familie konnte angesichts der dramatischen Entwicklungen niemandem auffallen. Dazu war die Zahl der Kinderlosen innerhalb der Kreisstadt auch zu gering.
„Der Zug war nicht mehr aufzuhalten, das Spiel war verloren“, stellt Landrätin Simone Peters resigniert fest. Die Strategie wurde grundsätzlich geändert. Man setzte im Landkreis auf gezielte Durchseuchung, entzog Risikogruppen dem öffentlichen Leben. Altenpflegekräfte zogen in die Altenheime, Krankenpflegekräfte ins Krankenhaus. Pflegende Angehörige wurden von ihren Arbeitgeber:innen freigestellt.
In der Notfallversorgung und auf den Intensivstationen innerhalb des Kreises kam es zu dramatischen Entwicklungen, die an die Zustände in Norditalien wie am Anfang der Pandemie im Frühjahr 2020 erinnerten. „Das war der Preis.“ Der Blick von Landrätin Peters wird starr. Im Landkreis verstarben um die 800 Patient:innen unmittelbar oder mittelbar an den Folgen einer Coronainfektion. Um die 200 von Ihnen konnten aufgrund eines völlig überlasteten Gesundheitssystems nicht die in diesen Fällen vorgesehene Therapie erhalten. „Wir konnten zwischen einem totalen Lockdown mit der vagen Hoffnung auf Besserung und einer Zerstörung großer Teile der lokalen Wirtschaft oder der gezielten Durchseuchung mit den absehbaren Folgen entscheiden. Beides keine hoffnungsvollen Optionen.“, sagt Peters. „Mich wird diese Bürde mein Leben lang begleiten.“
Der Landkreis Dreieichen zählte zu einem der ersten deutschlandweit, die als durchseucht galten. Er steht heute wirtschaftlich vergleichsweise gut da. Statistiken bescheinigen dem Landkreis wesentlich geringere Sterberaten durch Vereinsamung bei alten oder depressiven bzw. psychisch labilen Menschen. Landrätin Peters gilt heute als eine der schärfsten Kritiker:innen des Krisenmanagements in den Kultusbehörden. Unterstützt von Persönlichkeiten aus dem Landkreis hat sie verschiedene Klagen gegen führende Ministerialbeamte initiiert.
Nichts hiervon ist belegbar oder stimmt. Dieser Text ist eine reine Fiktion mit Fantasieereignissen, Fantasiezitaten und Fantasienamen.
Tag 9 der Familienquarantäne – Gedanken zur Epidemie
Ich wohne im Landkreis Cloppenburg. Das Infektionsgeschehen stellt sich zur Zeit bei uns so da:Die Inzidenz pendelt momentan so um die 40 Infektionen pro 100.000 Einwohner. Cloppenburg ist ein Zentrum der fleischverarbeitenden Industrie. Auch Gemüseanbau ist hier ein großer Wirtschaftszweig, wobei 1kg Gemüse ja mittlerweile mehr kostet als teilweise 1kg Fleisch.
Wir alle im Landkreis haben mit einem Ausbruch gerechnet. Mit einem Ausbruch in der Fleisch- oder Agrarindustrie. Der Ausbruch, um dessen Eindämmung sich alle hier redlich und nach bestem Wissen und Gewissen in der Verwaltung mühen, kommt aber wahrscheinlich eher aus der Mitte der Gesellschaft. Cloppenburg ist mit einem Durchschnittsalter um die 40 Jahre ein sehr junger Landkreis. Wir sehen hier gerade eine Reihe völlig komplikationsloser Infektionen unter jungen Menschen und Kindern – bzw. sehen wir sie wahrscheinlich gerade nicht in dem wirklichen Ausmaß. Dagegen helfen keine Masken und keine Abstandregelungen im öffentlichen Raum oder Schulen.
Unsere Familie hat es jetzt erwischt: Eines meiner Kinder ist vorletzten Mittwoch positiv getestet worden. Wir hätten unter normalen Umständen nicht getestet. Der Arzt hatte eine Testung zunächst abgelehnt. Trotz Kontakt mit einer Person, die positiv gestetet worden war, sind bei unserem Kind keine Symptome aufgetreten, die sich in irgendeiner Form einer COVID-19-Erkrankung zuordnen ließen. Da muss man dann schon etwas insistieren und das langjährige Vertrauen („Wenn die Rieckens kommen, dann ist da auch was!“) ausspielen.
Seit vorletzten Donnerstag sind wir als Familie offiziell, seit dem Dienstag davor in freiwilliger Quarantäne. Ich habe mich danach beim Hausarzt testen lassen, meine Frau in einem tierärztlichem Labor (Ja, das geht hier, schnell und zertifiziert) – beide Tests waren negativ. Die Umstände waren aber so, dass wir uns bei unserem Kind hätten infizieren müssen (drei Stunden Film in einem 7qm Raum ohne offenes Fenster). Es spricht also einiges dafür, dass wir beide bereits eine Infektion durchgemacht haben, die aber komplikationslos verlaufen ist. Das wäre durch einen Antikörpertest abzusichern. Vielleicht leiste ich mir selbst den – dann auch wieder nicht so aussagekräftigen – Spaß.
Das Infektionsgeschehen in unserer Familie hat wahrscheinlich einen Ausgangspunkt in einer privaten Feier mit sehr begrenzter Personenzahl. Aber das ist nicht sicher. Vieles spricht in der Rückschau dafür.
Eines ist aber ziemlich sicher: Wir als Gesellschaft wissen über das Virus und seine Ausbreitung eigentlich noch viel zu wenig. Wir wissen nichts über die Dunkelziffer, die jetzt hier in Cloppenburg in Teilen ausgeleuchtet wird.
Sicher ist auch, welche Folgen eine bestätigte Infektion innerhalb eines Jahrgangs in einer Schule hat: Der gesamte Jahrgang wird freigesetzt. Alle Schüler:innen müssen sich in ihren Haushalten in Zimmerquarantäne begeben und z.B. auch getrennt von ihrer Familie essen. Eine Testung zu Anfang dieser Quarantäne findet aus Kapazitätsgründen nicht statt. Die übrigen Familienmitglieder müssen sich lediglich von dem Kind in Quarantäne fernhalten, stehen selbst aber nicht unter Quarantäne.
Natürlich finden z.B. Reihentestungen zum Ende der Quarantäne auch bei Schüler:innen statt. Aber die bringen maximal eine Absicherung darüber, dass mit Aufnahme des Schulbetriebs ein bestimmter Personenkreis an einem bestimmten Tag nicht infektiös ist. Nach zwei Wochen kann man sich recht sicher sein, dass alle Ergebnisse negativ ausfallen.
Ein größerer Erkenntnisgewinn über das Infektionsgeschehen würde aber ein Reihentest zu Anfang einer Quarantäne bieten, weil m.E. dann deutlicher würde, wie weit die Infektion in der jüngeren Bevölkerung verbreitet ist. Positive Testungen hier würden aber weitere Dinge auslösen, z.B. Quarantäne für den gesamten Haushalt und Kontaktnachverfolgungen. Die Testkapazitäten wären wohl da, nicht aber das Personal, für das, was danach kommen könnte.
Deswegen habe ich Freunden entgegen meiner sonst doch eher nüchternen Art doch recht fatalistisch folgendes gepostet:
Das Spiel ist eigentlich verloren.
Gedreht werden kann es nur durch recht drastische Maßnahmen, die auch so ihre Folgen nach sich ziehen. Vielleicht werden das im besten Fall „Wandermaßnahmen“ – dann käme der Landkreis Cloppenburg als einer der ersten wieder aus der Nummer teilweise heraus.
Quarantäne ist ein schwerer Grundrechtseingriff, der sich zwar als Beamter mit Einfamilienhaus, Garten und funktionierendem sozialen Netz für die Grundversorgung gut aushalten lässt (selbst Baumaterial kommt hier an), aber natürlich auch wieder Schlaglichter auf Schule und Fernunterricht wirft. Sport fällt auch flach – selbst im Lockdown konnte man zumindest alleine durch den Wald toben.
Wenn meine Disziplin und Selbstbeherrschung in einer äußerst privilegierten Position Kratzer erleiden – wie mag es da anderen ergehen? Noch länger diese Maßnahmen? In der Breite der Gesellschaft? Ohne definiertes Ende?
Ich ertappe mich tatsächlich gelegentlich dabei, mittlerweile eher Richtung Durchseuchung um den Preis des Ausschlusses gefährdeter Personen vom öffentlichen Leben zu denken – quasi der „optimierte schwedische Weg“. Aber das würde wohl mit ziemlicher Sicherheit zu den italienischen Verhältnissen vom Frühjahr führen.
Was werden wir für Stimmungsbilder nach Weihnachten, nach einem weiteren halben Jahr der Einschränkungen sehen? Was lässt sich tun, um dem zu begegnen? Was kann der Anteil von uns daran sein?
Zarter Anfang:
Ich glaube, wir brauchen mehr Datenqualität, mehr Testungen zu Beginn einer Quarantäne, mehr ziviles und ehrenamtliches Engagement in der Gesundheitsämtern. Aber das ist nur ein intellektueller Anfang. Viel bedeutender ist der Blick auf die Emotionen in der Zivilgesellschaft, die sich nicht optimieren mit zunehmender Dauer von Beschränkungen.
Baufehler des Digitalpakts
Dominik Schöneberg hat schöne Artikel rund um die Problematik beim Digitalpakt geschrieben. Durch Twitter und die Medienlandschaft gehen gerade Artikel, die vorrechnen, wie viel Geld die einzelnen Bundesländer bisher aus dem Digitalpakt abgerufen haben. Da das alles nach langläufiger Meinung viel zu wenig ist, wird der Fehler im komplizierten Antragsverfahren gesehen und nach Vereinfachung gerufen, damit „Gelder schneller fließen“.
Ich möchte gerne dafür argumentieren, dass dieser Ruf absolut schädlich für das Thema Bildung ist. Ich bin frustriert, weil sich nach meiner Meinung eine durch die Bank schlechte Recherchequalität selbst von „Qualitätsmedien“ hier fortsetzt. Ich generalisiere hier, weil ich bisher wirklich nichts aus meiner Sicht Brauchbares oder Differenziertes gelesen habe.
Der Digitalpakt hat Baufehler. Dieser deckt sich strukturell mit dem für mich wahrnehmbaren aktuellen Journalismus zum Thema Digitalpakt: Man hat nicht sorgfältig auf die andere, große Seite des Digitalpaktes geschaut: Den Schulträger.
Baufehler 1: Konzept für Selbstverständlichkeiten
Der Digitalpakt unterscheidet in der Bund-Länder-Vereinbarung nicht zwischen Infrastruktur und Endgeräten: Beides muss eine Schule in technisch-pädagogischen Einsatzkonzepten“ oder ”Medienbildungskonzepten“ begründen. Aber wie begründe ich die Notwendigkeit von Straßen und Schienen, wenn ich mich zwischen Orten mit Verkehrsmitteln bewegen können will? Infrastruktur wird immer benötigt und ist in meinen Augen pädagogikneutral. Spannend wird es eigentlich erst bei der Auswahl von Präsentationssystemen und Endgeräten – da sehe Schulen in der Pflicht, sich Gedanken zum Einsatz zu machen, damit sich die Geschichte der beamergestützten Whiteboardlösungen aus vorangegangenen Konjunkturpaketen nicht wiederholt. Und man hätte die Zeit, die der Aufbau von Infrastruktur benötigt, gut dafür nutzen können, um sich darum Gedanken zu machen. So sind die Schulen schon vorab dazu gezwungen. Meine Befürchtung geht dahin, dass nun Konzepte für den Leitzordner entstehen, die ähnlich wie Hygienepläne oder Methodenkonzepte in der Schule nicht gelebt werden können. Dazu bräuchte es prozessorientierte Ansätze und stetige vernetzte Weiterentwicklung – das Netz wird die nächsten Jahre auch nicht ruhen.
Meine Lösung: Ich stelle Schulen für diesen Punkt Musterformulierungen bereit. Aber nur für diesen.
Baufehler 2: Der Digitalpakt als Einmalfeuerwerk
Der Digitalpakt versteht sich als eine einmalige Anschubfinanzierung. Aber es besteht ein kontinuierlicher Bedarf an finanziellen und personellen Ressourcen in den nächsten Jahren. Mit einem isolierten politischen Zeichen ist es nicht getan. Es braucht eine konzeptionelle Verstetigung.
Die Träger sind natürlich vorsichtig mit Investitionen, weil sie Folgekosten fürchten und damit Recht haben.
Meine Lösung: Ich berate zunächst(!) ganz stringent in Richtung digitale Infrastruktur. Die kostet im Betrieb wenig, in der Planung viel. Endgeräte sind vorerst nett. Ohne Infrastruktur sind sie totaler Mist.
Baufehler 3: Die alleingelassenen Träger
Mit der konkreten Umsetzung stehen die Träger alleine da. Ausschreibungen, Leistungsverzeichnisse, die Gewährleistung von Support u.v.m. sind hier die Herausforderungen. Aufgrund tariflicher Vereinbarungen sind Träger gegenüber der freien Wirtschaft bei der Gewinnung kompetenter IT-Mitarbeiter im Nachteil. Das Arbeitsumfeld Schule ist zudem nur für wenige ITler attraktiv – zu wenig strukturiert gewachsene IT-Landschaften, sehr anspruchsvolle Lehrkräfte und sehr individuelle Anforderungen gilt es zu konsolidieren. Da sind erhebliche kommunikative Konsequenzen erforderlich. Entsprechend angespannt ist die Bewerberlage und entsprechend hoch die Fluktuation.
Meine Lösung: Gibt es nicht. Hier müssen die Träger fachliche Unterstützung erfahren. Niedersachsen hat Standards für IT-Infrastruktur veröffentlicht. Den dort formulierten Anspruch habe ich mit zu vertreten. Die Vorgaben nützen aber nichts, da sie in individuelle Leistungsverzeichnisse und Ausschreibungsunterlagen überführt werden müssen. Hier braucht es Erleichterungen. Im ländlichen Bereich ist es üblich, dass Mittelständler vor Ort Schulen betreuen. Sobald diese aber in Planungen involviert sind, dürfen sie sich nicht mehr an Ausschreibungen beteiligen. Es gibt aber oft in der Fläche nicht mehr Kompetenz als diese Mittelständler. Also muss ich Gemeinden raten, den langen Weg über Planungsbüros zu gehen, obwohl man es im Kleinen vor Ort besser lösen könnte. Das erzeugt immense Transaktionskosten und Verzögerungen und Mittelabfluss zum Planer.
Baufehler 4: Die (eigentlich) unlösbare Aufgabe der Lehrkräftequalifikation
Momentan ist so gut wie keine Phase der Lehrerausbildung inhaltlich oder methodisch hinreichend an eine Schule im Zeitalter der Digitalisierung angepasst. Die Lehrkräfte, die die Ausbildung mit hinreichenden Kompetenzen verlassen, haben diese in großen Teilen autodidaktisch erworben. Gleichzeitig besteht die Notwendigkeit für eine Qualifikation ja nicht nur für Lehrerinnen und Lehrer in Ausbildung, sondern für sämtliche Lehrkräfte im deutschen Bildungssystem. Genau wie bei den IT-Supportkräften stellt sich hier schnell die Frage, wer das in diesem gewaltigen Umfang momentan leisten soll. In einigen Bundesländern scheint man dem Mut der Verzweiflung auf Blended-Learningangebote im Internet zu setzen. Multiplikatoren entwickeln Onlinekurse, in den dann im günstigsten Fall ein Rahmen für die Kompetenzentwicklung der Teilnehmenden gesetzt wird. Verschärfend kommt hinzu, dass Schule Menschen lange Zeit einen Schutzraum geboten hat: Sie können heute noch VHS-Kassetten weitgehend problemlos in einer Schule abspielen. Allein die Ankündigung, dass auch die DVD auf Dauer verschwinden wird, kann an mancher Schule viele Lehrkräfte immer noch erheblich irritieren. Auch das ändert sich, jedoch immer noch langsamer als der technologische Fortschritt mit seiner engen Verflechtung mit kulturellen Veränderungen. Wir stehen wieder einmal mehr vor einer beispiellosen Situation.
Meine Lösung: Corona hat hier viel verändert und ermöglicht Dinge, die ich bisher nicht für möglich gehalten hätte. Im Team mit der Medienberatung, eingekauften Fortbildungsangeboten und den Kompetenzzentren haben wir in der Ferienzeit über 4000 Lehrkräfte erreicht. Die Initiative geht hier in Niedersachsen weiter und wird in über 1000 staatlich getragenen Angeboten münden. Schon in der kurzen Coronazeit hat sich enorm viel getan.
Das Nadelöhr im Digitalpakt sind die Träger, weil man sie nicht angemessen mitgedacht hat. Wenn man jetzt von Grundprinzipien wie „Infrastruktur zuerst“ (und parallel dazu Begleitung, Schulung und Gedanken zum Lernen mit und über Medien) abweicht, hilft man Trägern natürlich auch: Endgeräte auszuschreiben ist pillepalle. Dann noch schön die Auflagen für die Schulen lockern, dass sie ohne gedankliche Vorbereitung Tablets in Mengen beschaffen können (so hätte es ja auch gerne der Philologenverband) und wir sind wieder im Jahre 2009 bei den gescheiterten kommunalen Konjunkturpaketen angelangt. Das ist das vorhersehbare Ergebnis von Forderungen nach „Vereinfachung des Antragsverfahren“.
Was Trägern und Bildung gleichermaßen helfen würde sind Änderungen bei Ausschreibungs- und Vergabeverfahren – das dürfte aber EU-Recht betreffen. Was Träger weiterhin helfen würde, sind Qualifierungsangebote für Mitarbeiter:innen oder besser: Ein Bus voller toller Leute, die vor dem Rathaus aussteigen und den Digitalpakt rocken und gegenfinanziert werden. Solange diese Busse nicht fahren, wird es eben langsam gehen. Aber besser so als die zweite Welle interaktiver Tafelsysteme oder (klischeehafte) Tabletklassen, in denen (klischeehaft) PDF-Dokumente mit Applepencils ausgefüllt werden.