Es geht hoch her in Bildungsdiskussionen. Ein Mathematikprofessor aus NRW äußert sich kritisch zum Stand der aktuellen Mathematikdidaktik. Bildungstwitter geht
Was müssen wir zukünftig wissen und können?
Es geht hoch her in Bildungsdiskussionen. Ein Mathematikprofessor aus NRW äußert sich kritisch zum Stand der aktuellen Mathematikdidaktik. Bildungstwitter geht steil nach eher konservativen Äußerungen einer ehemaligen Lehrkraft zu neuen Prüfungsformaten. Im Kern geht es um die Frage, was ein Individuum in einer Welt der Digitalität individuell beherrschen muss und was über Kompetenzen in einer digitalisierten Welt durch digitale Technologie (die meist nur ein Portal in einen virtuellen gesellschaftlichen Raum bietet) mehr oder minder mittelbar erschlossen werden kann.
- „Man muss nicht mehr programmieren können. Das werden Maschinen bald besser und automatisiert machen.“
- „Man muss bestimmte kreative Produkte bzw. Vorstufen davon nicht selbst erstellen können. Nur die wenigsten Menschen können mit den Leistungen von KI-Systemen konkurrieren.“
- „Man muss Technolgie nicht verstehen. Die kompetente Benutzung ist ausreichend.“
Viele Annahmen über die Zukunft sind Annahmen. Wir wissen nichts darüber, was gesellschaftlich und politisch geschehen wird, ob sich z.B. Demokratien mit ihren recht langwierigen politischen Prozessen gegen autokratische Staatformen vor allem wirtschaftlich behaupten werden, die eben durch ihre autokratischen Strukturen Problemen wie denen in Kontext des Klimawandels viel effektiver entgegentreten können. Wir wissen selbst in Demokratien nicht, welche Effekte durch z.B. Lobbyismus langfristig die Gesellschaft bestimmen werden.
Das mit den „Kompetenzen von morgen“ ist ein wunder Punkt in plausibel klingenden Modellen wie VUCA, BANI, die sich an Beschreibungen versuchen, aus deren Buzzwords sich aber keinesfalls konkretere Handlungen ableiten lassen.
Damit reihen sich diese Modelle wie viele andere strukturell in den Reigen von z.B. Sprachmodellen ein, die Gegenwart reproduzieren, keinesfalls aber darüber hinausgehen (können).
Weil alles so unbestimmt ist, scheint der Griff nach der guten, alten Zeit schlüssig: Das hat funktioniert. Das ist die Grundlage unserer immer noch sehr starken deutschen Wirtschaft, Anstrengungsbereitschaft, Lernen, sich mehr oder minder liebevoll leiten lassen. Und beide Lager rhetorisieren unter dem Deckmantel der Sachlichkeit mehr oder minder polarisierend aufeinander ein.
Strukturell erinnert mich das an sehr alte Konzepte und Perspektiven auf die Welt: Die Materialisten mit ihrem eher kulturpessimistischen Ansatz und die Idealisten mit ihrem Glauben an die Entwicklungsfähigkeit des Menschen.
Autopoesis des Individuums ist eine (idealistische) Utopie
Eine bestimmte Art des Lernens findet bei mir über Sinnstiftung statt: Wenn ich ein Ziel habe – etwa für eine Gruppe Gitarre spielen zu können – dann werde ich natürlich das Gitarrespielen je nach Begabung viel schneller lernen als wenn ich von meinen Eltern dazu gezwungen werden, Gitarre zu spielen. Letzteres schließt aber nicht per se aus, dass ich es in meinem Leben irgendwann bereuen könnte, nicht doch das Gitarrenspielen erlernt zu haben, weil ich eben noch nicht weiß, wie mein Leben verlaufen wird. Andere – wie in dem Beispiel meine Eltern – haben aufgrund ihrer Lebenserfahrung eine Vorstellung, wie es verlaufen könnte – die habe ich selbst zu diesem Zeitpunkt vielleicht nicht.
Wohlwollend und bezogen auf Schule sind nun Curricula („Lehrpläne“) schlicht nach Vorstellungen von dem aufgebaut, was ein auch immer geartetes Kollektiv von Menschen denkt, was im Leben von jungen Menschen eine Rolle spielen könnte – aber eben nicht muss. Und der Streit darüber, was das genau ist, findet auf mehreren Ebenen statt.
- In welchem Maß sollte Sinnstiftung beim Lernprozess die alleinige Rolle spielen?
- In welchem Maß sind komplett individualisierte Lernprozesse mit welchem System wie abbildbar?
- In welchem Verhältnis stehen Metakonzepte wie z.B. die Kompetenzorientierung zu den für ihren Erwerb notwendigen Voraussetzungen wie Wissen oder Kenntnisse von Informationen?
Kompetenzler werden antworten, dass Kompetenzen sich ja immer an einem konkreten Sachgegenstand entwickeln – ich stelle vermehrt fest, dass ich von immer mehr Dummheit umgeben bin – politisch erleben wir das gerade ganz hübsch mit dem Aufstieg rechter Parteien – überall auf der Welt. Die lokale Wirtschaft klagt, dass Auszubildende immer weniger wissen und können, was für den jeweiligen Beruf relevant ist. In meinem Studium nehme ich gar nicht so wenig Menschen wahr, die Lernen als sehr konsumorientiert wahrnehmen – es muss ihnen „gemacht werden“. Das Netz quillt über von Inhalten, die aus einer humanistischen Perspektive zumindest bemerkenswert sind: Pornografie, Selbstdarstellung, Beautywahn, die x‑te durchaus gesundheitsgefährdende TikTok-Challenge, Kommunikation auf optimierbarem Niveau. Rein quantitativ scheinen mir die Schätze und Supportsysteme dagegen „leicht“ unterrepräsentiert zu sein.
Trotzdem werden viele Verfechter „neuer Lern- und Schulkonzepte“ nicht müde, die Vorteile und Möglichkeiten, die das Internet bietet, immer wieder ins Feld zu führen. Kritik daran wird gar nicht so selten als Kulturpessimimus abgetan.
Autopoesis im Sinne einer humanistischen Denkweise benötigt Voraussetzungen, die es im Rahmen von Bildungsprozessen oft erst zu entwickeln gilt. Die Voraussetzungen dafür sind in einer Gesellschaft, die materiell im Großen und Ganzen sehr gut versorgt ist, gar nicht immer „von sich aus“ gegeben. Ich halte dieses Konzept daher zunehmend für ein äußerst optimistisches.
Das Modalverb aus dem Titel dieses Artikels
Der Titel dieses Artikels enthält das Modalverb „müssen“. Dem Wesen nach ist das schon ziemlich autokratisch. Es könnte sein, dass etwas gemusst wird, was u.U. im ersten Moment gar keine Freude macht und dessen Sinn sich dem Individuum auch nicht sofort erschließt. Klar kann ich Konversation n einer Fremdsprache mittlerweile ohne Fremdsprachenkenntnisse betreiben. Und klar wird sich diese Technologie bald sehr weit entwickelt haben – viel weniger Mühe und wesentlich spaßbetonter als z.B. Vokabeln zu lernen. Das mit den Fremdsprachen ist nur ein Beispiel. Als angehender Informatiklehrer denke ich da an Konzepte wie das Binärsystem oder Sortieralgorithmen – braucht man nicht, nur wird man sein Leben lang von Technologie umgeben sein, die darauf aufbauende Konzepte nutzt. Das Nichtwissen kann gut gehen, muss es aber nicht.
Mein Plädoyer ist daher eines für mehr Sanftmut mit Menschen, die das „Müssen“ in den Mittelpunkt ihres Handelns als z.B. Lehrperson stellen. Auch sie könnten selbst in einer stark veränderten Welt in Teilen immer nicht richtig liegen.
Als fertig ausgebildete Lehrkraft selbst Prüfungen ablegen
Einleitung
Ich versuche mich gerade an einem berufbegleitenden Studium zur offiziellen Erlangung der Lehrbefähigung für das Fach Informatik – genauer: Wenn das klappt, kann ich im Fach Informatik das Abitur abnehmen. Ich gehe dazu den sehr steinigen Weg eines regulären Drittfachstudiums. Das kostet an der Universität Oldenburg um die 550,- Euro Gebühren je Semester und es sind 95 Kreditpoints zu erwirtschaften.
Der Dienstherr bietet ein kostenloses Aufbaustudium im Umfang von 60 Kreditpoints an, das aber hinsichtlich der Anzahl der zur Verfügung stehenden Plätze begrenzt ist und sehr, sehr viel inhaltlich und von der Zeitstruktur her vorgibt. Das reguläre Drittfachstudium ist da viel freier – man kann einiges nach seinen Interessen wählen. Für beide Varianten gibt es keine Entlastung in irgendwelcher Form und bisher kam ich nicht in der Verlegenheit, meine Schule um irgendein Entgegenkommen in Form von Freistellungen für Klausuren / Prüfungen usw. bitten zu müssen, obwohl die SL das mit Kusshand ermöglichen würde: Informatik ist ein absolutes Mangelfach in Niedersachsen und wird i.d.R. fachfremd unterrichtet – was ich auch bis Klasse 11 schon mehrfach gemacht habe.
Das Studium in der von mir gewählten Form bietet keinerlei formale Vorteile (im Gegenteil: Man hätte in Ernstfall eine dritte Fachschaft mitzubespielen, deutlich mehr Konferenzbeteiligung usw.), ist Mehraufwand, kostet privates Geld und der Dienstherr profitiert jetzt schon quasi doppelt, da ein Semesterticket für ganz Niedersachsen inkludiert ist und ich damit keinerlei Fahrtkosten für die Medienberatung mit den üblichen „Anträgen des maximalen Misstrauens“ abrechnen muss (bei meinem Schulträger liegen ein Fahrtenbuch sowie ein Tankstellenkarte im Dienstauto, das ich mitbenutzen darf).
Warum dieser Aufwand? Ich mache das primär für mich und meine eigene fachliche Weiterentwicklung (mich interessiert der Scheiß einfach total) und möche selbst entscheiden können, ob und wie ich das beende und ob und wie ich das in mein dienstliches Verhältnis überhaupt einbringe. Ohne vorliegende Bescheinigung gibt es das Studium für den Dienstherrn ja schließlich offiziell nicht – also auch keinerlei Rechte (eigentlich ist das so ein Machtumkehrding – aber das wäre eine andere Geschichte).
Die Schüler:innen profitieren – so denke ich – schon jetzt durch meine deutlich erweiterte fachliche Perspektive auch im offiziell fachfremden Unterricht. Die 1100,- Euro pro Jahr sind durch andere, offiziell als Nebentätigkeit angezeigte Arrangements außerhalb des Dienstes bisher gut gegenfinanziert.
Prüfungen an der Universität
So ein Studium bringt es mit sich, dass man Prüfungen an der Universität ablegen muss. Im Bachelor-/Mastersystem ist das kumulativ, d.h. besucht Veranstaltungen, für die Leistungsnachweise zu erbringen sind – durchlebt habe ich schon Portfolio, mündliche Prüfung und Klausuren. Dafür werden mir Kreditpoints gutgeschrieben. Wenn der Zähler auf 95 steht, dann habe ich meine Lehrbefähigung, bzw. könnte sie mir ausstellen lassen. Absolvieren muss ich nur den fachlichen und didaktischen Teil für das Fach Informatik am Gymnasium – keine Bachelor- oder Masterarbeit. Sehr viele Veranstaltungen besucht man als „Lehramtler“ gemeinsam mit den Vollinformatikern.
Mündlich gelingt mir das bisher sehr gut, schriftlich komme ich bisher nicht über ein „bestanden“ (4.0) hinaus. Damit bin ich als alter Knacker eigentlich solides Mittelfeld: 30% fallen durch, 30% liegen zwischen 4.0 und 3.7 und 40% machen das besser (so Pi mal Daumen).
Klausuren als geschlossene Formate
Ich habe drei Klausuren geschrieben:
- Betriebssysteme (hier ein Einblick) – war ein Mastermodul und größenwahnsinnig – aber: bestanden!
- PDA (Programme, Datenstrukturen und Algorithmen) – z.B. Datentypen, Kontroll- und Datenstrukturen, Sortieralgorithmen, Berechnung von Aufwänden etc. (bestanden!)
- OMP (Objektorientierte Modellierung und Programmierung) – z.B. Klassen, Objekte, Interfaces, Streams, Lambda-Audrücke, Lösungsstrategien, Heuristiken, unterschiedliche Programmieransätze (Logikorientierung, funktionale/regelbasierte Programmierung) etc. (am vergangenen Dienstag geschrieben)
Geschlossene Formate wie Klausuren sind ja gerade in der Twitterbubble sehr verpönt und voll nicht zum Nachweis von Kompetenzen für das 21. Century geeignet. Spoiler: Nunja.
Alle drei Klausuren waren in meinen Augen sehr, sehr gut gestellt und bestanden fast nur aus Transferleistungen. Ohne Vogelperspektive und Konzeptverständnis waren sie definitiv nicht zu bestehen – und gerade in der Informatik will man zunehmend Leute mit dieser Perspektive, damit nicht vollkommen idiotische und überholte informatische Ansätze wie „Masterkeys“ (eigentlich Singleton Pattern, „God“-Class) gefahren werden (wobei man fairerweise sagen muss, dass es gerade bei Security kompliziert ist – Stichwort: Geheimdienste, Gesetzgebung, politische Interessen, Strafverfolgung).
Kontext der geschlossenen Formate
Natürlich kommt es immer auch auf den Kontext an, in dem die Klausuren stehen. Alle Dozent:innen haben Angebote gemacht: Es gab Aufgaben zum Vorlesungsstoff, die in Gruppen bearbeitet werden konnten. Für diese Aufgaben gibt es Punkte, die einem selbst eine Einordnung ermöglichen, wo man steht – sie wurden also korrigiert und kommentiert. Teilweise kann man mit den Aufgaben „Bonuspunkte“ für die Klausur erwirtschaften. In Tutorien konnte man Fragen stellen, eigene Lösungen vorstellen oder sich auch Dinge noch einmal erklären lassen. Bei den Veranstaltungen ohne Bonuspunkte gab es ein Ranking – jede Gruppe hatte einen Fantasienamen, der dann in einer Art Liga erschien, so dass man sich innerhalb der Veranstaltung leistungsmäßig verorten konnte.
Ich hatte bei einer Übungsgruppe Glück: Fast immer hatten wir alle alle Aufgaben bearbeitet, konnten so über unterschiedliche Ansätze diskutieren und entscheiden, was wir abgeben. Allerdings waren wir alle in der Situation, berufsbegleitend zu studieren.
Ich hatte bei einer Übungsgruppe Pech: Ich war er einzige, der überhaupt Aufgaben bearbeitet und dann die Bonuspunkte für die beiden anderen mit erwirtschaftet hatte. Diese Sache musste ich dann auch aufgrund von Überlastung abbrechen – da war mir eine Parallelveranstaltung wichtiger.
Die Tutorien waren für mich größtenteils ernüchternd: Es saßen motivierte Tutor:innen dort, didaktisch zwar unerfahren, aber sehr offen und die Haupterwartung der meisten Kommiliton:innen schien darin zu bestehen, die Vorlesesungsinhalte noch einmal doziert zu bekommen. Kaum „falsche Lösungen“ wurden diskutiert, kaum eigene Lösungen vorgestellt – das Lernangebot wurde meiner Ansicht nach kaum, eher gar nicht genutzt. Unsere Übungsgruppe war quasi die einzige mit aktiven Beiträgen – irgendwann kam ich mir doof und streberhaft vor. Da muss ich noch Wege finden …
Generell finde ich allerdings, dass die zusätzlich offenen Lernangebote aufgrund der Haltung vieler Mitstudierender kaum geeignet sind, einzuschätzen, welches Wissen und welche Kompetenzen tatsächlich erworben wurden. Das geschlossene Format „Klausur“ erscheint mir vor diesem Hintergrund schon sehr notwendig zu sein, um eine generelle Beschäftigung mit den Lerninhalten zu triggern. Bei über 320 Menschen in einer Veranstaltung wird das organisatorisch mit alternativen Prüfungsformaten durchaus fordernd…Die Klausuren kann man inkl. Freiversuch übrigens 4x wiederholen.
Mit einer anderen Haltung wäre die Klausur vielleicht nicht notwendig. Bei einigen Fragen von Mitstudierenden in der großen Vorlesung hinsichtlich der inhaltlichen Progression und des Anspruchs kam bei mir schon auch Fremdscham auf.
Das Verhalten ist von Schule mit verursacht. Ich denke, wir bedienen dort ggf. zu sehr das Konsumbedürfnis und zu wenig die forschende Haltung.
Mein persönliches Klausurerleben
In den Ferien, zwei Tage nach dem Urlaub bin ich um 7 Uhr gen Oldenburg gefahren – bewaffnet mit Lesebrille, drei Kugelschreibern und einem erlaubten Spickzettel (handschriftlich, zweiseitig, DINA4). Man kommt in den Hörsaal und setzt sich an einem Platz, an dem eine Klausur liegt (Gruppe A / B). 10 Minuten Einlese- und Fragezeit. Natürlich hatte ich im Urlaub nur bedingt Bock auf Vorbereitung. Durchgelesen – eigentlich nichts auf Anhieb verstanden. Bei mir geht es ja um fast nichts. Ruhe bewahrt. Eine Aufgabe konnte ich gleich abschreiben – da war nichts zu wollen. Bei allen anderen konnte ich etwas schreiben – Stück für Stück wurde es klarer und besser, viel Lesekompetenz war gefragt, manches, was hochtrabend klang, war dann doch nicht so schwierig wie auf den ersten Blick. Den Spickzettel habe ich nicht einmal gebraucht. Durchgefallen ist aber auf jeden Fall im Bereich des Möglichen :o)…
Dieses Jahr im Abitur in der Vaterrolle – eine Elternrede
Eine Elternrede zum Abitur
Ich durfte in diesem Jahr die Elternrede halten. Der Song, von dem die Rede ist:
https://www.youtube.com/watch?v=xMat6dqM298
Die besondere Challenge lag darin, dass ich auch selbst Kollege und auch medienpädagogischer Berater im Landkreis bin. Da muss man sich ganz sicher mit den unterschiedlichen Rollen sein.
Die Rede
Ihr habt es geschafft. Ihr habt Abitur. Euch steht jetzt jede Ausbildung offen – zumindest die, die nicht an einem Notenschnitt oder einer Eingangsprüfung hängt. Keine Fragen nach Noten oder dem Schultag mehr zu Hause. Das mit dem frühen Aufstehen ist auch für eine Weile erledigt. Für die meisten steht wohl ein chilliger Sommer an.
Großer Dank an dieser Stelle an eure Lehrkräfte. Ich konnte hautnah erleben, wie sehr so manchen Kolleg:innen mit euch mitgefiebert haben. Und jetzt müsst ihr nur noch herausfinden, wie euer persönlicher Geist aus der Flasche fährt. Das Gemeine ist das Wörtchen „nur“ dabei in unserer Zeit. Das vergessen wir Älteren gerne. Denn es gibt so viel! Abundance. Überfluss – über den wir Älteren im Digitalbereich oft sehr klagen.
Mir ist vor nicht allzu langer Zeit eine Unterhaltung passiert. Mit einem jungen Menschen wie euch. Dieser Mensch hatte sich das dritte Mal für eine Änderung des Studienganges entschieden und wusste immer noch nicht, ob das jetzt richtig wäre. Papa war so mittel amused. Druck. Ich musste an einen Song von Tina Dico denken.
„Sometimes the fastest way to get there is to go slow
and sometimes, if you wanna hold on, you got to let go.“
Eigentlich lässt man es besser auf Englisch, weil es im Deutschen viel von seiner Kraft verliert. Aber nicht jeder hier heute kann Englisch. Deswegen versuche ich es einmal.
„Manchmal ist der schnellste Weg, um anzukommen, langsam zu gehen.
Und manchmal musst du etwas loslassen, um dabeibleiben zu können.“
Den bisherigen Weg sind Menschen mit euch gegangen. Ein ganzes Dorf: Eure Familie, eure Lehrkräfte – hier und an eurer Grundschule, eure Verwandten, vielleicht eure Trainer in den Sportvereinen, vielleicht Mitarbeitende und Ehrenamtliche in der Jugendarbeit und Kirchen und sozialen Verbänden, Menschen, die euch in der KiTa betreut haben, viele Menschen, ohne die ihr vielleicht jetzt nicht gerade hier, gerade heute sitzen würdet. Übrigens: In einer der für mich schönsten Schulen Niedersachsens! Und ich komme viel herum. Ohne Schulträger, ohne Politik , das Team der Schulleitung (über die wir gerne eher meckern), ohne Personal wie Hausmeister, Raumpfleger:innen, Sekretär:innen, Schulsozialarbeit – alles nicht möglich. Danke an Sie alle.
Ihr habt vielleicht schon heute Abend oder in der nächsten Wochen eine gute Chance, manchen von diesen Menschen gegenüber etwas loszuwerden. Sagt es ihnen. Ein Lob wärmt. Kritik zeigt immer Interesse. Schweigen verunsichert. Im Leben zerbricht deutlich häufiger etwas an dem, was nicht gesagt wird als an dem, was gesagt wird.
Vielleicht erinnert ihr heute am ehestens die immerwährenden nervigen Fragen, wie es in der Schule war oder das gemeinsame, manchmal etwas mühselige gemeinsame Üben mit irgendwem, wenn etwas in der Schule nicht so gelaufen ist. Vielleicht erinnert ihr euch jetzt eher an das immerwährende Bewertetwerden. Das geht leider noch ein wenig weiter. Vielleicht erinnern wir Eltern uns an so manchen Gefühlsausbruch und Zweifel an unseren Fähigkeiten, an apokalyptische Partys, Warten in Autokorsos mit Eltern in Joggingsanzügen vor der Party und nächtliche Nahrungsgelüste nach solchen – gerade in der letzten Zeit.
Vielleicht mischen sich aber auch sentimentalere Töne in diese Rückschau. Bei euch, weil eurer Weg eigentlich erst beginnt und mit jedem eurer Schritte weiter entsteht, für uns Eltern, weil sich für uns etwas ändert – sodass wir uns gelegentlich bald wünschen werden, endlich wieder einmal eine verwüstete Küche oder Wohnung aufzuräumen oder Wäsche aus dem Pumakäfig waschen zu dürfen. Schließlich ja noch gar nicht so lange her, dass ihr auf eine Armlänge von uns gepasst habt.
„Sometimes, if you wanna hold on, you got to let go.“
Einige von euch wissen vielleicht schon felsenfest, was sie machen wollen. Ich wusste das auch. Ich wollte in eurem Alter auf gar keinen Fall Lehrer werden, weil meine Mutter wollte, dass ich Lehrer werde. Ich wollte auf jeden Fall nie mehr als zwei Kinder. Und eine feste Beziehung konnte ich mir erstmal auch nicht vorstellen. Vielleicht vermutet ihr es schon: Davon ist jetzt nicht so viel genau so gekommen. Das geht bis heute so.
Einige von euch aber wissen vielleicht auch gar nicht oder gar nicht so ganz sicher, wie es weitergeht und fragen sich jetzt vielleicht: Was werde ich tun? Welcher Weg ist der Richtige für mich? Habe ich die richtige Entscheidung getroffen? Schaffe ich das? Ich mache vielleicht schon ein Jahr etwas anderes – was ist, wenn ich es danach immer noch nicht weiß? Und was ist, wenn ich nichts finde? Was ist, wenn ich es nicht schaffe?
„Sometimes the fastest way to get there is to go slow.“
Jeder von euch ist heute schonmal hier.
Wieder einmal ein skandinavisches Land hat diese Fragen schon lange im Blick. In Dänemark kann man für überschaubare Preise für einige Zeit in eine der „folkehøjskole“ (Volkshochschule) gehen, die als Internat konzipiert sind – sie haben nur sehr wenig mit ihren deutschen Pendants zu tun. Kurse zu Heavy Metal in einer z.B. klösterlichen Umgebung sind dort kein Widerspruch. Es gibt keine Ziele, keine Prüfungen, keine Zertifikate. Im Mittelpunkt stehen der Mensch, das Miteinander, der mittlerweile internationale Dialog. Es geht darum, zu sich zu kommen, langsam zu gehen, um dann eine erste Entscheidung darüber zu treffen, wie es weitergeht. Gerüchtehalber sollen dänische Bildungspolitiker:innen berechnet haben, dass die „ folkehøjskole“ dem dänischen Staat trotz der teuren Internatsstruktur mehr Geld spart als sie an Kosten verursacht. (Jetzt kommt etwas Politik: Gerüchtehalber sollen jenseits der Landesgrenze zu Dänemark aber auch Wärmepumpen selbst in unsanierten Altbauten im Winter wirtschaftlich funktionieren.)
Es gibt neben den dänischen „folkehøjskole“ viele Möglichkeiten in Deutschland, Europa, teilweise sogar in der ganzen Welt, sich für eine Weile in Gesellschaft einzubringen und Selbstständigkeit zu erproben, Druck zu nehmen für eine Zeit.
Wenn man sich nicht entscheiden kann, ist Druck immer der schlechteste Berater, den ihr bekommen könnt. Bei fast jedem Angebot, mit dem Druck auf euch ausgeübt wird, solltet ihr misstrauisch werden. Leider muss man auch das immer wieder sagen: Gerade ihr Frauen. Übrigens nahezu egal, in welchem Lebensbereich.
„Sometimes the fastest way to get there is to go slow.“
Läufer:innen wissen das: Die Sekunden, die man am Anfang gewinnt, legt man später in Minuten obendrauf.
Aber entscheiden müsst ihr euch in einer Welt, die alles bietet und in einem Staat, der zunehmend jeden von euch braucht. Und ihr könnt es! Weil ihr Abitur und damit eine Wahl habt! Eine Wahl zu haben ist Luxus und nicht selbstverständlich. Dummerweise gehört zu einer Wahl eine Entscheidung. Und ja: Wahlen können manchmal dumm ausgehen.
Wie Heinz Rudolf Kunze in irgendeinem Jahrhundert mal gesungen hat: Eigene Wege entstehen ja erst beim Gehen – nicht durch Zögern und Abwarten des vermeintlich Optimaleren. Und das, was euch prägen wird, sind die Umwege, die ihr gehen werdet, z.B. die Partys, auf die ihr nicht geht, sondern geratet, die Gespräche, die ihr nicht führt, sondern die euch passieren. Das Gespräch vom Anfang dieser Rede wird z.B. für mich bleiben.
Wir Eltern müssen gemeinsam mit dem gesamten Dorf an Menschen, mit dem ihr aufgewachsen seid – eure Lehrkräfte sind ja z.B. hier, darauf vertrauen, dass wir euch dafür alles mitgegeben haben, damit ihr für euch entscheiden könnt und an den vermeintlichen Fehlern wachsen werdet. Wir müssen euch vertrauen, aber vor allem auch uns selbst, dass wir doch mehr richtig als falsch gemacht haben. Erziehung ist schließlich wie Börse: Hinterher ist immer einfach.
„Sometimes, if you wanna hold on, you got to let go“
Ihr werdet alle euren Weg machen. Das weiß ich z.B. von zahlreichen Gesprächen mit Ehemaligen, die mir passiert sind. Wir vergessen in Deutschland gerne, dass es uns im Wesentlichen sehr gut geht, dass wir zumeist mindestens in warmen Wohnungen mit genug zu essen in einem friedlichen Land sitzen.
Die Zukunft kann heutzutage manchmal Angst machen. Vergesst aber nicht: Das ist nur die Zukunft, die wir nicht gestalten, die wir in unserem Denken so lassen. Wir gestalten von nun an noch mehr mit euch. Als Dorf. Mit euren Wegen und Entscheidungen. Ihr macht was draus, da bin ich mir sicher.
„Sometimes the fastest way to get there is to go slow
and sometimes, if you wanna hold on, you got to let go“
Wie Sprachmodelle unsere Gesellschaft verändern werden
Ein Blick ins Klassenzimmer
Martha hat eine Englischhausaufgabe bekommen. Sie soll einen Text über die drei bekanntesten Sehenswürdigkeiten von New York schreiben. New York steht im Zentrum der aktuellen Unit im Englischbuch. Martha ist nicht sehr gut in Englisch. Aber die App auf ihrem Handy ist direkt an ChatGPT angedockt. ChatGPT ist eine künstliche Intelligenz, die auf möglichst natürliche Textausgabe optimiert ist. Martha tippt in ihre App: „Write an article about the three most famous sights in New York.“, denn das ist die Aufgabenstellung, die ihre Lehrerin ihr gegeben hat. Heraus kommt folgender Text (abgedruckt ist die unveränderte Ausgabe):
New York City is one of the world’s most vibrant and exciting destinations. Known for its diverse culture, bustling streets, and iconic landmarks, the city is a hub of entertainment and commerce. From the bright lights of Times Square to the grandeur of the Statue of Liberty, New York offers a wealth of sights to explore. In this article, we will take a closer look at the three most famous sights in the city.
1. The Statue of Liberty
The Statue of Liberty is one of the most iconic landmarks in New York City. Located on Liberty Island, the statue was gifted to the United States by the people of France in 1886 as a symbol of freedom and democracy. The statue is 151 feet tall and is made of copper plates, which have turned green over time due to weathering.
Visitors can take a ferry to Liberty Island and climb to the top of the pedestal or even to the crown of the statue for panoramic views of the city skyline and harbor. The statue is also visible from Battery Park in Lower Manhattan, where visitors can take in the stunning view of the statue against the backdrop of the city.
1. The Empire State Building
The Empire State Building is a towering skyscraper located in Midtown Manhattan. It was completed in 1931 and was the world’s tallest building until 1971. The building stands at 1,454 feet tall and has 102 floors. Visitors can take an elevator to the observation deck on the 86th floor for breathtaking views of the city skyline. On a clear day, visitors can see up to 80 miles in every direction.
The Empire State Building has been featured in numerous movies and is a popular tourist destination. The building’s art deco architecture is a sight to behold, and the nighttime lighting display is an iconic part of the city skyline.
1. Central Park
Central Park is a vast green space located in the heart of Manhattan. The park covers 843 acres and is a popular destination for both locals and tourists. Visitors can explore the park on foot, by bike, or even by horse-drawn carriage. The park features numerous walking paths, gardens, lakes, and ponds, as well as famous landmarks such as the Central Park Zoo and the Bethesda Fountain.
In the winter, visitors can go ice-skating at the Wollman Rink, and in the summer, there are numerous concerts and events held in the park. Central Park is a welcome respite from the hustle and bustle of the city and provides a tranquil oasis in the heart of Manhattan.
In conclusion, New York City is home to many famous sights, but the Statue of Liberty, Empire State Building, and Central Park are three of the most iconic. These landmarks represent the city’s history, culture, and natural beauty and are must-see destinations for anyone visiting the city. Whether you’re a first-time visitor or a lifelong New Yorker, these sights never cease to amaze and inspire.
Martha meldet sich und liest ihren Text vor. Ihre Lehrkraft ist verwundert. Dieser Text entspricht überhaupt nicht Marthas bisher im Unterricht gezeigten Fähigkeiten. Sie hat den Verdacht, dass dieser Text von irgendwoher kopiert sein könnte – findet im Netz aber nichts. Martha erhält eine gute Note.
Hannes und Fred präsentieren ihren Text im Unterricht. Eigentlich lässt sich zum Inhalt wenig Schlechtes sagen, aber das Geschriebene erinnert dann doch mehr an Gesprochenes: Satzzeicheninflation am Satzende, kaum Groß- und Kleinschreibung und die Zeichensetzung ist optimierbar – oder gar nicht erst vorhanden. Hannes und Fred kopieren ihren Text daraufhin in https://www.deepl.com/write . Das ist ein KI-basierter Webdienst, der keine Daten sammelt und bis 2000 Zeichen kostenlos ohne Account nutzbar ist. Deepl ist eigentlich ein sehr gutes Übersetzungswerkzeug, kann in einer Betaversion jetzt aber auch Texte stilistisch überarbeiten. Hannes und Fred schauen sich die vorgeschlagenen Änderungen an. Einiges gefällt ihnen, einiges scheint den Sinn ihres Textes zu stark zu verändern. Sie entscheiden sich dazu, einige Passagen zu ändern, weil sie durch die Änderungen wirklich besser klingen.
Diese beiden Beispiele zeigen, was heute für alle bereits mit sprachbasierter künstlicher Intelligenz möglich ist. Während das erste Beispiel in vielen Kollegien in deutschen Schulen für Aufruhr sorgt, wenn das Potential von Sprachmodellen dort überhaupt ankommt, zeigt das zweite Beispiel, dass Sprachmodelle gerade unsichere Schreiber sehr gut unterstützen könnten.
Die Auseinandersetzung über ChatGPT in sozialen Netzwerken
Zwischen diesen beiden Polen bewegen sich manchmal emotional sehr aufgeladene Diskussionen in sozialen Netzwerken. Die einen sehen bestehende Strukturen und Aufgabenformate in Gefahr, die andere experimentieren mutig mit den sich ergebenden neuen Möglichkeiten. Diese Experimente bewegen sich oft primär auf einer phänomenologischen Ebene: Im Kern geht es darum, die Eingaben („Prompts“) zu finden, die eine vorher erdachte Aufgabenstellung mit Hilfe eines Sprachmodells optimal lösen.
Natürlich bleibt die Auseinandersetzung vorerst phänomenologisch. Man gibt sich Tipps, welche Eingaben zu einem gewünschten Ergebnis führen und wie der ChatBot in z.B. eine andere Rolle einnehmen kann. Das klappt auf der Oberfläche. Die technischen Abläufe in einem Sprachmodell sind gar nicht so leicht zu verstehen.
Was ist ein Sprachmodell eigentlich?
Ein Sprachmodell ist eine sehr komplexe Software, die zur Klasse der künstlichen Intelligenz gezählt wird. Schon der Begriff „Intelligenz“ ist je nach Fachdisziplin nicht einfach zu definieren. Daher sprechen einige Fachleute lieber von „maschinellem Lernen“, was das Definitionsproblem jedoch lediglich auf den Begriff des Lernens verschiebt. Als Ausweg aus diesem Dilemma haben eine Reihe von Autor:innen nicht nur aus dem Informatikumfeld folgende Arbeitsdefinition für künstliche Intelligenz vorgeschlagen:
„Künstliche Intelligenz bezeichnet die Fähigkeit von Computersystemen, auf sie zugeschnittene Aufgaben selbsttätig zu lösen, die aufgrund ihrer Komplexität bislang menschliche Fähigkeiten erforderten”1
Angewendet: Sprachmodelle lösen nun selbstständig das Problem der Erstellung von Texten auf Basis von Eingaben, die Nutzer:innen vorgeben. Aber wie machen sie das?
In den Anfangszeiten von künstlicher Intelligenz waren die Aufgaben und Möglichkeiten von IT-Systemen noch etwas beschränkter. Ein sehr einfaches Beispiel sind die damaligen Obstwaagen in den Frischeabteilungen der Supermärkte. Der Kunde füllte eine Ware in einen Beutel, ging zur einer Waage, legte den Beutel auf und drückte eine Taste mit einem Symbol oder einer Nummer. Die Waage druckte dann einen Kassenzettel mit Strichcode aus. Es waren aber nicht alle Kunden ehrlich, so dass man auf die Idee kam, diese Waagen durch eine Kamera zu ergänzen, mit deren Hilfe die aufgelegte Ware erkannt werden konnte, z.B. anhand von Größe oder Farbe. Im Prinzip konnte man drei Fälle unterscheiden:
a) Wenn der Tastendruck des Kunden zur erkannten Ware passte, war die Entscheidung eindeutig.
b) Wenn der Tastendruck eindeutig nicht zur aufgelegten Ware passte, konnte ein alternativer Kassenzettel gedruckt werden.
c) Wenn die Erkennung selbst uneindeutig war, d.h. zwei Produkte in Frage kommen würden, aber der Kunde z.B. die Taste mit dem teureren Produkt gedrückt hat, wurde natürlich die teurere Variante gewählt – gleichzeitig ließ sich diese Situation abspeichern, so dass sie für die Zukunft mit berücksichtigt werden konnte.
Diese Waage erzeugte also auf Basis von Eingaben und der Bilder der Kamera (Eingabeschicht) Daten, die sie verarbeitete (Verarbeitungsschicht). Bei der Verarbeitung flossen die Eingabedaten ebenso ein, wie gespeicherte Fälle aus einer Datenbank. Die Daten wurden untereinander gewichtet, mit einer Datenbank voller Standardfälle abgeglichen und dann eine Ausgabe in Form eines Kassenzettels erzeugt (Ausgabeschicht).Mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit stimmten dann Kassenzettel und Produkt tatsächlich überein. Die Wahrscheinlichkeit der Übereinstimmung war umso größer, je mehr Standardfälle in der Datenbank der Waage erfasst wurden und je mehr Eingaben die „intelligente Waage“ bereits verarbeitet hatte. Softwarentwickler:innen konnten die Standardfälle in Form einer Datenbank vorgeben.
Sprachmodelle funktionieren nach einem ähnlichen Prinzip, nur dass die Standardfälle und Ausgaben ungleich komplexer sind als bei dem Beispiel der Waage. Zudem ist verhältnismäßig wenig darüber bekannt, mit welchen Daten die zugrundeliegenden Datenbanken gefüllt wurden. Letztlich gilt aber auch hier, dass die Ausgaben lediglich mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit korrekt sind oder gar zur Anfrage des Nutzenden passen – daher verhalten sich Hannes und Fred deutlich smarter als Martha.
Es mag auf den ersten Blick erstaunen, dass Sprachmodelle Ausgaben in der momentanen Qualität liefern. Wir halten Sprache für ein komplexes System und würden einer Maschine deren Imitation zunächst nicht so recht zutrauen. Allerdings sind Sprachmodelle nicht einfach vom Himmel gefallen.
Die Grundlagen wurden schon früh gelegt: Sprachassistent:innen wie Siri, Alexa, Cortana usw. sind schon länger in der Lage gesprochene Sprache zu erkennen und Reaktionen auf einfache Eingaben zu erzeugen.
In der Informatik gilt der Grundsatz:
„Wenn du eine Software oder KI bauen kannst, die etwas erkennt, kannst du auch eine Software oder KI bauen, die dasselbe Ding imitiert.“2
Nebenbei bemerkt wird durch diesen schlichten Satz auch klar, dass jedes Sicherheitssystem, das auf der Erkennung von z.B. menschlicher Sprache oder der Erkennung von Gesichtern basiert, keine gute Idee zur Herstellung von Sicherheit ist – wenn es künstliche Intelligenz gibt, die menschliche Sprache und menschliche Gesichter imitieren kann und diese sich zudem weiter entwickelt.
Einen weiteren Einblick in die Komplexität von Sprachmodellen bieten übrigens auch deren Hardwareanforderungen. Vor kurzem tauchte Facebooks Sprachmodell „LLaMA“ im Netz auf. Ein handlicher Download von 268GB enthält unterschiedliche Sprachmodellvarianten. In der einfachsten 7B Variante benötigt LLaMA zwischen 12–16GB an VRAM einer Grafikkarte, möglichst viele Prozessorkerne und RAM. Die Verarbeitungszeiten selbst einfacher Prompts auf Standardhardware bewegen sich jenseits erträglicher Werte. Damit ist zumindest für den Moment klar, dass auf Basis des heutigen Wissensstandes nur sehr wenige Markteilnehmer in der Lage sein werden, in der Breite verfügbare Sprachmodelle stabil zu betreiben.
Mögliche Auswirkungen auf das kommerzialisierte Internet
Der dazu notwendige immense Energieverbrauch ist in diesem Kontext letztlich eine Fußnote, weil Sprachmodelle das Potential besitzen, das Netz in seiner Struktur fundamental zu verändern.
Gerade das kommerzielle Internet besteht aus einer Vielzahl von Texten, die einen Gebrauchscharakter aufweisen: Nachrichten, Sportberichte, Produktbeschreibungen und Zusammenfassungen sind durch Sprachmodelle mit relativ begrenzten Anweisungen und Eingaben automatisiert erstellbar. Die dazu notwendigen Daten liegen teilweise bereits in digitalisierter Form vor. Es wird z.B. bei Handballspielen ein dezidiertes Spielprotokoll geführt, aus dem ein heutiges Sprachmodell mühelos und weitgehend automatisiert einen Spielbericht erstellen kann.
Das wird sowohl immense Auswirkungen auf jeden Markteilnehmer haben, der sich mit Contenterstellung beschäftigt, als auch den Suchmaschinenmarkt komplett verändern: Der zur Suchanfrage passende Inhalt kann theoretisch individuell generiert werden – natürlich auch aus kommerziellen Quellen. Das werden damit spannende Zeiten für das Leistungsschutzrecht: Zitieren auch kleinerer Textpassagen ist im Prinzip nicht mehr notwendig. Die Ergebnisse werden einer signifikant großen Anwender:innengruppe vollkommen ausreichen. Die dann ggf. höflicherweise mit angegebenen Originalquellen erfahren keine Aufmerksamkeit durch Klicks und Besuche mehr – einer immens wichtigen ideellen Währung im Netz. Damit werden insbesondere die Internetgiganten es noch effektiver bewerkstelligen, Nutzer:innen in ihrem eigenen digitalen Ökosystem zu halten. Microsoft unternimmt bereits erste Schritte mit BingAI und der Integration von sprachmodellbasierter Korrekturfunktionen in seine Officeprodukte. Google holt als Reaktion seinen auf Lamda basierten Chatbot „Bard“ wieder auf die Bühne, dessen Produktivbetrieb zunächst auf Basis von ethischen Bedenken verworfen wurde: Bard konnte per Sprachausgabe täuschend echte Anrufe z.B. zur Reservierung von Restauranttischen oder Essensbestellungen auf Basis von einfachen Prompts realisieren. Das potentielle Missbrauchspotential dieser Funktionen stand einer Markteinführung 2021 noch im Weg.
Sprachmodelle als Unterstützung bei Anträgen und Dokumentationen
Deutschland hat ein ausgeprägtes Dokumentations- und Antragswesen in unterschiedlichen Bereichen etabliert: In der Medizin z.B. der Arztbericht, in Förderprogrammen umfangreiche Anträge, in der Pflege komplexe Dokumentationen, Protokolle von allen möglichen Sitzungen – die Liste ließe sich beliebig fortsetzen. Allen diesen „Textgattungen“ ist gemein, dass sie oft sehr schematisch sind – schematische Texte sind schon heute eine Domäne von Sprachmodellen.
Sprachmodelle werden dabei helfen, Menschen von diesen schematischen Aufgaben zu entlasten. Für spezielle Fachbereiche sind Textgeneratoren denkbar, die primär mit fachbezogenen Inhalten trainiert werden. Dadurch können sie bei Routineaufgaben unterstützen, wenngleich nach heutigem Stand immer noch eine Überprüfung der Ausgaben durch einen sachkundigen Menschen erforderlich ist.
Aber auch in diesem Feld ist es kompliziert. Nehmen wir das Antragswesen in Förderprogrammen: Die teilweise hohen Anforderungen an Förderanträge dienen dazu, den Zugriff auf eine begrenzte Ressource (z.B. Geld oder Personal) zu begrenzen. Sprachmodelle werden natürlich dabei helfen, bisher nicht ausreichend genutzte Fördermittel tatsächlich abrufen zu können. Es gibt jedoch Ressourcen, die völlig überlaufen sind – etwa die sonderpädagogischen Unterstützungsangebote in Schulen. Auch hier werden Sprachmodelle z.B. bei der Erstellung von Gutachten unterstützen, jedoch bleiben gerade personelle Ressourcen weiterhin knapp. Damit wird der Zugang zu ebendiesen Ressourcen auf anderen Wegen erschwert werden: Ein gut begründeter Antrag steht lediglich in Konkurrenz zu anderen sehr gut begründeten Anträgen.
Sprachmodelle als neutralere Entscheidungsinstanzen?
Sascha Lobo setzt sich in seiner Kolumne „KI kann menschliche Verantwortung nicht ersetzen? – Doch!“ mit der Stellungnahme des deutschen Ethikrates zu künstlicher Intelligenz auseinander. Er fordert, dass künstliche Intelligenz in bestimmten Bereichen an die Stelle der menschlichen Entscheidung tritt – genau da fällt für den deutschen Ethikrat die letzte Grenze. Als Beispiel kann die Diagnose eines Arztes dienen: Ein speziell mit medizinischem Wissen trainiertes Sprachmodell könnte dabei unterstützen. Als Eingabe dienen z.B. Labor- und Anamnesedaten. Das spezialisierte Sprachmodell könnte denkbare Erkrankungen auf Basis dieser Daten ermitteln und wäre dabei nicht auf das Wissen einer Einzelperson beschränkt.
Für Sascha Lobo ist das ein Fall, bei dem sich die Frage nach dem Einsatz von Sprachmodellen nicht stellt, sondern für ihn verbindlich sein sollte, weil das spezialisierte Sprachmodell dem Menschen überlegen sei. Diese Argumentation erscheint zunächst bestechend – allerdings ist ein Modell immer nur so gut wie dessen Eingabedaten, die hier im Rahmen einer Anamnese durch einen Menschen entstehen. Das kann bei einigen Krankheitsbildern komplex und fehlerträchtig sein – gerade in Zweifelsfällen: Die gleiche Krankheit kann bei unterschiedlichen Menschen völlig unterschiedliche Symptome auslösen – es wird eine spannende Frage in welchem ggf. lückenhaften Verhältnis das Erfahrungswissen eines Menschen und dessen Interaktionsmöglichkeiten mit anderen zu der von einer KI gelieferten Information steht.
Sprachmodelle und Bildungsprozesse
Kommen wir am Schluss noch einmal zurück zu Martha, Hannes und Fred: Sie wachsen in einer Welt auf, in der Sprachmodelle mit ihren immer menschenähnlicheren Interfaces wie ChatGPT in ganz kurzer Zeit selbstverständlich sein werden – gerade auch in Kombination mit Sprachein- und ‑ausgabe. Nie wieder schulische Übungstexte? Nie wieder Hausaufgaben mit künstlichen Aufgabenstellungen? Sind Hausaufgaben gar tot? Wenn doch heute einfaches „Prompting“ ausreicht?
Entscheidend beim Schreiben ist der gedankliche Prozess bei der Erstellung eines Textes. Wenn wir an die Stelle des Schreibprozesses Prompting bei einem Sprachmodell setzen und den Schreibprozess selbst automatisieren, verschieben wir den Lernprozess auf eine andere Ebene. Diese Ebene erfordert letztlich große Beurteilungskompetenzen, die sich bei Schreiblernenden wie Martha, Hannes und Fred noch in einer sensiblen Entwicklungsphase befinden und damit in vielen Fällen eine Überforderung darstellen müssen. Gleichzeitig gehen mit einiger Wahrscheinlichkeit schreibkompetenten Menschen durch die Nutzung von Sprachmodellen Trainings- und Denkprozesse bei eigentlichen Erstellen von Texten verloren. An deren Stelle treten Mechanismen zur Entwicklung und Modifikation von geeigneten Prompts. Genau diese Vorgehensweisen und Anwendungen werden bereits in großer Breite in den sozialen Medien diskutiert. Warum den Einführungstext zu Immanuel Kant aus dem Schulbuch lesen? Lassen wie Schüler:innen doch einfach mit einem ChatBot „Immanuel Kant“ chatten, den eine Lehrkraft zuvor per „Megaprompt“ mit Hilfe eines Sprachmodells erschaffen hat und der auf die individuellen Fragen der Schüler:innen eingeht.
Sprachmodelle selbst können aufgrund ihrer Komplexität nur von großen Marktteilnehmern betrieben werden – das wirft die Frage nach neuen Abhängigkeitsebenen auf, gerade im Bildungssystem.
Chancen und neue Herausforderungen
Sprachmodelle berühren einen Bereich, der eine Gesellschaft ausmacht: Die Kommunikation und den Umgang mit Sprache. Sie sind nach Maßstäben der Digitalisierung nichts wirklich Neues, wie Googles ChatBot „Bard“ bereits vor drei Jahren zeigte. Mit ChatGPT steht erstmals ein Interface zum Sprachmodell GPT zur Verfügung, was durch viele Menschen niederschwellig nutzbar ist. Viele Anforderungen werden noch nicht zufriedenstellend gelöst. Jedoch können Sprachmodelle auf Millionen von Nutzer:inneneingaben zurückgreifen und auf deren Basis weiterentwickelt werden. Bereits auf dem Stand der heutigen Entwicklung ist immenses Potential auf unterschiedlichen Ebenen erahnbar. Gleichzeitig treten ganz neue Fragestellungen auf, die vor allem Juristen und Ethiker beschäftigen werden. Die Komplexität bei der Modifikation und dem Betrieb von Sprachmodellen wird dafür sorgen, dass sie primär in der Hand der Internetgiganten bleiben werden. Was diese ohne wirksame staatliche Regulierung daraus machen werden, bleibt eine offene Frage.
1 Gethmann, Buxmann Distelrath, Humm, Lingner, Nitsch, Schmidt, Spiecker genannt Döhmann: „Künstliche Intelligenz in der Forschung – Neue Möglichkeiten und Herausforderungen für die Wissenschaft“, S. 10, aus der Reihe: Ethics of Science and Technology Assessment Bd. 48, bei: Springer
Die SWK möchte als kurzfristige Lösung Mehrarbeit, Abbau von Teilzeit und größere Klassen
Die politisch geschickt instrumentalisierte SWK
Manchmal bin ja Prophet: Ich habe viele dieser Vorschläge bereits vor einiger Zeit vorausgesehen: Lehrkräfte gewinnen & Lehrkräftemangel überwinden – als Laie. Die SWK bekommt in sozialen Medien gerade doch recht eindeutige Reaktionen, die Teile ihrer Mitglieder offenbar stark verunsichert. Renommierte Bildungsjournalist:innen wie der von mir geschätzte Jan-Martin Wiarda springen ihr bei. Zwischentöne wie der Versuch, Unterrichtsqualität durch Einsatz ausgebildeter Lehrkräfte erhalten zu wollen, verhallen gegenüber den Maßnahmen aus dem „Giftschrank“.
Es war aus meiner Sicht keine kluge Entscheidung der SWK, den vorangegangenen Auftrag der KMK überhaupt anzunehmen – offenbar ohne ihn zu modifizieren. Es ist sehr spannend, worüber öffentlich gesprochen wird. Spannend ist aber auch, worüber in Zusammenhang mit der SWK-Veröffentlichung nicht gesprochen wird und wer sich gerade nicht öffentlich äußert und erklärt.
Vermisst habe ich z.B. eine belastbare Erhebung über die Gründe, warum Lehrkräfte in Teilzeit gehen. Verbände und Lehrkräfte selbst behaupten: Wegen Überlastung und dem Wunsch, den Beruf möglichst gut und schülergerecht zu machen. Andere gesellschaftliche Gruppen behaupten: Wegen Bequemlichkeit und dabei zu auskömmlicher Besoldung. Mir fehlen dazu Zahlen. Datengestützte Erkenntnisse dazu könnten nicht unerheblich zu geeigneten Maßnahmen beitragen. Belastbare Zahlen wird man in dieser Phase der Debatte nicht mehr bekommen.
Vermisst habe ich übrigens weiterhin die Idee, mit anderen Aufgaben betraute Lehrkräfte zurück ins System zu holen, z.B. Fachberatung, Medienberatung, Schulentwicklungsberatung, Schulinspektion bzw. allgemein Menschen mit Lehramtsausbildung, die an Schulbehörden, Landesinstituten und Ministerien arbeiten – da wäre noch einiges zu holen, um den Preis einer weiteren systematischen Schwächung des Mittelbaus des Schulsystems, die schon seit Jahren u.a. von externen Beratungsagenturen vorangetrieben wird.
Politik instrumentalisiert nunmal gerne – das Feuer richtet sich zurzeit recht effektiv gegen die Wissenschaftler:innen. Dabei hätte ich ganz andere Fragen – z.B. ob die altehrwürdige KMK (immerhin selbst länger existierend als der Bundesrat) eine geeignete Struktur darstellt und dargestellt hat, unser Bildungsystem in eine Richtung zu entwickeln, die der Volkswirtschaft und Kultur eines bodenschatzarmen Landes gerecht werden könnte. Immerhin spricht die SWK ja selbst von Problemen von historischem Ausmaß – da darf es folgerichtig auch keine Denkverbote hinsichtlich des Fortbestands von Strukturen jedweder Art und Geschichte geben.
Fehlende Alternativen zu den Vorschlägen der SWK
Ich mache mich jetzt einmal unbeliebt: Es gibt objektiv m.E. überhaupt keine Alternative zu den vorgeschlagenen Maßnahmen, wenn man die bisherige – schon jetzt oft kritisierte – Unterrichtsquali- und ‑quantität zumindest für einen gewissen, wahrscheinlich recht kurzen Zeitraum aufrecht erhalten möchte.
Daher laufen dramatisierende Kommentare wie der von Bob Blume im Spiegel weitgehend ins Leere: Sie benennen Misstände und Fehlargumentationen – sie bleiben jedoch letztlich die Antwort schuldig, was man denn jetzt genau für die Schüler:innen machen soll, die sich im System befinden. Überwiegende Teile der Gesellschaft sind der Klage der Lehrkräfte wahrscheinlich überdrüssig.
Die Maßnahmen selbst werden zwar kurzfristig helfen, aber letztlich dazu führen, dass sich Fehlentwicklungen weiter verschärfen. Die Zeit, um gegenzusteuern, wird nicht ausreichen. Der Verweis auf Versäumnisse in der Vergangenheit mag ebenfalls objektiv richtig, aber noch weniger hilfreich bei der Bewältigung aktueller Herausforderungen sein.
Warum die Idee einer Imagesteigerung des Lehrer:innenberufes bestenfalls niedlich ist
Wer fordert, das Image des Lehrer:innenberufs zu verbessern, um mehr Bewerber:innen gewinnen zu können und z.B. mehr Studienplätze schaffen möchte, verkennt die Situation in der Gesamtgesellschaft: Das Fachkräfteproblem ist ein gesamtgesellschaftliches! Das Handwerk, die öffentliche Verwaltung, die Bundeswehr, die Polizei, das Gesundheitssystem, die frühkindliche Bildung, die Industrie – eigentlich nahezu alle Branchen treten zu der oft vorgeschlagenen „Imageoffensive“ in Konkurrenz. Es fehlen schlicht die Menschen für die Aufgaben innerhalb von Wirtschaft und Verwaltung. Als leidlich gut ausgebildeter junger Mensch bin ich nicht (mehr) darauf angewiesen, um die Gunst eines Systems zu buhlen – es bewerben sich gleich mehrere um mich. Je größer dabei die Not, desto geringer muss übrigens folgerichtig zusätzlich im Prinzip die eigene Kompetenz von Bewerber:innen sein. Ggf. könnte die oft beschworene „Deindustrialisierung Deutschlands“ gerade nicht durch Steuern und Energiepreise, sondern letztenendes durch das schlichte Fehlen von Köpfen vorangetrieben werden, wenn Faktoren wie politische Stabilität und freiheitliche Gesellschaftsverhältnisse kein ausreichendes Wachstum in einer kapitalistischen Marktlogik der Großkonzerne mehr garantieren.
Was also tun?
Eine Attraktivitätssteigerung mit Strahlkraft kann nur aus dem System heraus erfolgen. Politisch muss alles daran gesetzt werden, engagierte und kluge Köpfe im Bildungsystem um jeden Preis zu halten. Das geht mit den bisherigen Verwaltungs- und Hörigkeitsstrukturen nicht. Wenn sich Verantwortliche immer wieder auf ihr Recht berufen könnten, z.B. Weisungen zu erteilen, die dann praktisch nicht umsetzbar sind, wird es schwierig. Wenn wir gegenüber Lehrkräften immer wieder Konzepte des maximalen Misstrauens fahren (z.B. enge Vorschriften zur justitiablen Korrektur oder Durchführung von Prüfungen), wird es schwierig. Wie wäre es stattdessen mit einer umfassenden Rechtsschutzversicherung? Oder umfassenden Insassenversicherung, wenn der engagierte Kollege mit der kleinen Schüler:innengruppe zu einem Wettbewerb fährt anstatt dann auch noch einen Antrag stellen zu müssen? Vertrauen statt Misstrauen als default, dienstrechtliche Maßnahmen – dann bitte auch gerne wirklich eskalierend – bei fortgesetztem Fehlverhalten.
Was weiterhin komplett fehlt, ist eine Perspektive für die Menschen, die sich jetzt im System befinden. Die Erfahrung aus der Vergangenheit ist, das Mehrbelastungen schnell umgesetzt, Entlastungen dann aber immer wieder vertagt werden. Solange dieser Zyklus nicht durch eine echte Perspektive durchbrochen wird, bleibt es schwierig. Symbole wie die Absetzung der KMK würden zwar m.E. immens helfen, sind wahrscheinlich formal nicht realistisch. Und so konstruktiv ist diese Forderung ja auch wieder nicht. Zu den Anfängen dieses Blogs hatte ich einmal die Idee, dass Bildungssystem einer staatlich eng kontrollierten NGO anzuvertrauen. Ja, ich weiß, Föderalismus und so. Aber es würde zumindest das Bildungsystems den Legislaturperioden entziehen – ich erniedrige daher auf: „Der KMK eine NGO entgegenstellen“ (und nach zehn Jahre zu schauen, woher die nachhaltigieren Impulse gekommen sind – die andere Organisation wird dann aufgelöst.) Das wären vielleicht ein Symbol und eine geeignete Perspektive.
Zivilgesellschaft muss es noch mehr als jetzt schon richten
Jetzt kommt schon wieder etwas Unangenehmes: Trotzdem Politik und Verwaltung viel zur aktuellen Krise beigetragen haben, werden es Politik und Verwaltung nicht ohne Lehrkräfte und Zivilgesellschaft schaffen. Wir Lehrkräfte mit großen oder keinen Kindern müssen weg von der Haltung: „Jetzt sollen die Jungen mal!“ (falls wir sie hätten, soll ja schon vorgekommen sein). Speziell auf uns kommt einiges zu. Gleichzeitig müssen wir uns mehr unseres Wertes für das System bewusst werden und das dann so leben. Wir haben eine Loyalitätspflicht gegenüber dem Dienstherren, er aber auch eine gegenüber uns. Das wird gerne vergessen. Widerstandsformen hinter der eigenen Klassenraumtür interessieren eine formale Struktur wir eine Schulbürokratie wesentlich weniger als Widerstandsformen, die Verwaltungsakte auslösen und z.B. mit Hilfe von Verbänden ihrerseits intern und immer der Treuepflicht folgend eskaliert werden können.
Um es konkreter zu machen: Beamte müssen beamtenrechtlich amtsangemessen beschäftigt werden. Das ist ein ziemlich relevanter Kern der Fürsorgepflicht. Die ihnen übertragenen Aufgaben müssen ihren Qualifikationen (Hebelpunkt 1) und der Wertigkeit ihres Amtes (Hebelpunkt 2) entsprechen. Die Ausgestaltung eines Amtes durch den Dienstherrn hat hier eine juristische Grenze.
Wir – und damit meine ich viele Männer – dürfen die Hauptlast der familiären Aufgaben nicht vorwiegend Frauen aufbürden. Alle Männer, die die Konfektionsgrößen ihrer Kinder nicht kennen, tun das. Also auch ich. Viele Frauen sind im System wegen der familienfreundlichen Anpassungsmöglichkeiten der Arbeitszeit und tragen aber gleichzeitig die volle Last des „Familienmanagements“, d.h. Lebensmodelle von Lehrerfamilien werden durch Reduktion der Teilzeitmöglichkeiten nicht unberührt bleiben können. Ich bin mir nämlich nicht so sicher, ob es wirklich viele Lehrkräfte gibt, die ohne eigene Kinder unter 18 Jahren oder pflegebedütftige Angehörige Stunden reduzieren. Die Ermittlung konkreter Zahlen dazu ist die SWK schuldig geblieben. 49% Teilzeitquote hört sich erstmal viel an, ja.
Vertrauen muss wieder default werden
Eltern müssen in Erziehungsfragen noch mehr als jetzt in Verantwortung gehen. Kooperation sollte Konfrontation stechen, auch wenn Erzieher:innen und Lehrkräfte die individuellen Bedürfnisse der eigenen Kinder zunehmend eher weniger als mehr erfüllen können. Sonst wird es bald deutlich weniger Menschen geben, die dazu bereit und auch noch in der Lage sind, individuell auf Kinder einzugehen. Ich möchte allen Eltern Mut machen, den Lehrkräften ihrer Kinder zu vertrauen. Wenn dieses Vertrauen gestört ist, gibt es taugliche Mittel (Gesprächstermin + ggf. dann weitere Eskalation) und weniger taugliche Mittel (Veröffentlichung von Korrekturen auf Socialmedia, Beschwerde bei der Schulbehörde als erste Reaktion) zur Lösungsanbahnung.
Ich möchte den Schulbehörden und Kultusministerien Mut machen, ihren Schulleitungen und Lehrkräften mehr oder anders zu vertrauen. Ziel muss Selbstständigkeit sein. Nur das trägt langfristig zur Arbeitsentlastung von Schulleitungen und Behörden bei. Kontrolle und Beratung mit dem Ziel der unbedingten Pflichterfüllung wird immer verunsichern. Verunsicherung zieht ein Bestreben nach Absicherung nach sich. Viele kleinteilige Nachfragen von vielen Kolleg:innen kann z.B. keine Schulleitung dieser Welt bewältigen.
Wenn etwas Öffentlichkeitswirksames schulisches Personal angeht, darf man schulischem Personal vertrauen und es VOR der Öffentlichkeit informieren. Neuerungen und Aufträge z.B. aus Pressemitteilungen zu erfahren stärkt an der Basis nicht die Autorität übergeordneter Behörden. Das ist schlicht optimierbarer Führungsstil. Ideal wäre natürlich eine Beteiligung der Basis an Entscheidungsprozessen, aber natürlich wenig realistisch.
Wo Menschen arbeiten, geschehen Fehler. Wo Menschen überlastet sind, überproportional viele. Man kann jetzt so tun, als bestünde die Möglichkeit, dass derartige Fehler im Prinzip immer wieder und überall vorkommen – obwohl sie statistisch kaum relevant sind – und für alle möglichen Spezialfälle, die selten eintreten, neue Vorgaben, Erlasse und Verordnungen generieren, die letztlich die Arbeit aller einschränken und erschweren – das kann sogar dazu führen, dass die Behörde bei Anfragen dann selbst nicht mehr durchblickt und letztlich auch mehr Arbeit hat.
Man kann aber auch darauf vertrauen, dass im Schulsystem in der Mehrzahl gut ausgebildete Menschen arbeiten, die die Ressourcen des Dienstherrn nicht absichtlich oder fahrlässig binden wollen. Und die Welt ist gemein: Es treten immer wieder Fälle ein, die unvorhersehbar waren. Und dann reagiert man wieder mit neuen Vorgaben, Erlassen und Verordnungen, die Arbeit aller erschweren? Vielleicht ist dieses Konzept selbst bedingt zielführend.
Menschen arbeiten gerne in Umgebungen, die ihnen etwas zutraut und die ihnen selbst vertraut. Und das Schulsystem muss attraktiver werden. Vertrauen als default bitte! (klappt bei Professor:innen und Richter:innen im Wesentlichen auch).
Reform der Ausbildung von Erzieher:innen und Lehrkräften
Eines vorweg und wieder umpopulär: Für die Sekundarstufe habe ich keine Lösung. Die scheint aber auch nicht so wichtig zu sein wie der Elementar- und Primarbereich, wenn Dinge wie Chancengleichheit und Anhebung des gesamten Bildungsniveaus einer Bevölkerung im Mittelpunkt stehen – da verlieren wir die Kinder wesentlich früher und das lässt sich auch kaum wieder aufholen, wenn ich die mir bekannten Studien richtig gelesen habe. Daher: Im KiTa- und Krippenbereich müssen wir die Ausbildungsqualität anheben. Das sollten zumindest vermehrt akademische Berufsbilder sein.
Im Primarbereich ist mir das Konzept eines dualen Studiums sehr sympathisch. Kooperation mit anderen Fachkräften kommt im Primarbereich im Berufsalltag deutlich öfter vor als in höheren Schulformen. Das bildet eine gute Grundlage für junge Menschen, die sich beruflich noch finden wollen und eine frühe Perspektive auf das, was Schule ausmacht. Und ein früher Einblick bietet Chancen, sich zu begeistern und auch fachlich im Studium Leistung zu bringen, aber auch frühe Chancen auf Umorientierung. So könnten Schulen von mehr klugen Köpfen im Alltag profitieren.
Die größte Entlastung für weiterführende Schulformen wären m.E. letztlich Menschen, die in der Mehrzahl lernoffen und selbstkompetent sind. Gleichzeitig könnte das das Arbeitsumfeld attraktiv machen, wenn junge Menschen uns dann anders fordern.
Fachkräfte zur Entlastung der Lehrkräfte von fachfremden Aufgaben?
Die fachfremden Aufgaben gibt es ja an Schulen formal nicht, weil für die Ausgestaltung des Lehrkräfteberufes der Grundsatz der Amtsangemessenheit gilt (s.o.). Die Vorschläge der SWK zur Entlastung von Lehrkräften in diesem Bereich bleiben mir verglichen mit den sehr konkreten Berechnungen zu Stundengewinnen durch Einschränkung von Teilzeitoptionen, Mehrarbeit und Co. etwas zu vage. Die Idee einer Korrekturassistenz ist ja wahrscheinlich auf den ersten Blick ganz nett, aber verkennt, dass hier viele Fragen offenbleiben – etwa die nach der Qualifizierung der beteiligten Personen und dem Aufwand für die notwendigen Kommunikationsprozesse.
Die Digitalisierung wird nach meinem Empfinden von der SWK noch zu stark mit technischem Fokus gedacht anstatt deren gesamtgesellschaftliche Implikationen in den Blick zu nehmen. Die Vorschläge zum Hybridunterricht erscheinen mit sehr stark durch klassische universitäre Lernsettings geprägt. Wie könnten Stellenbeschreibungen für Personal konkret aussehen, das Lehrkräfte nachhaltig entlasten soll? Wo werden die einzusetzenden Ressourcen erhoben und ebenso plakativ berechnet und mit Zahlen hinterlegt wie die zu erwartetenden Stundengewinne? (war wahrscheinlich nicht der „Auftrag“).
Und das Digitale?
Ach, ich glaube meine Gedanken dazu verkaufe ich besser wieder in Form eines kommerziellen Artikels :o)…