Dieses Jahr im Abitur in der Vaterrolle – eine Elternrede

Eine Elternrede zum Abitur

Ich durf­te in die­sem Jahr die Eltern­re­de hal­ten. Der Song, von dem die Rede ist:

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https://www.youtube.com/watch?v=xMat6dqM298

Die beson­de­re Chall­enge lag dar­in, dass ich auch selbst Kol­le­ge und auch medi­en­päd­ago­gi­scher Bera­ter im Land­kreis bin. Da muss man sich ganz sicher mit den unter­schied­li­chen Rol­len sein.

 

Die Rede

Ihr habt es geschafft. Ihr habt Abitur. Euch steht jetzt jede Aus­bil­dung offen – zumin­dest die, die nicht an einem Noten­schnitt oder einer Ein­gangs­prü­fung hängt. Kei­ne Fra­gen nach Noten oder dem Schul­tag mehr zu Hau­se. Das mit dem frü­hen Auf­ste­hen ist auch für eine Wei­le erle­digt. Für die meis­ten steht wohl ein chil­li­ger Som­mer an.

Gro­ßer Dank an die­ser Stel­le an eure Lehr­kräf­te. Ich konn­te haut­nah erle­ben, wie sehr so man­chen Kolleg:innen mit euch mit­ge­fie­bert haben. Und jetzt müsst ihr nur noch her­aus­fin­den, wie euer per­sön­li­cher Geist aus der Fla­sche fährt. Das Gemei­ne ist das Wört­chen „nur“ dabei in unse­rer Zeit. Das ver­ges­sen wir Älte­ren ger­ne. Denn es gibt so viel! Abun­dance. Über­fluss – über den wir Älte­ren im Digi­tal­be­reich oft sehr klagen.

Mir ist vor nicht all­zu lan­ger Zeit eine Unter­hal­tung pas­siert. Mit einem jun­gen Men­schen wie euch. Die­ser Mensch hat­te sich das drit­te Mal für eine Ände­rung des Stu­di­en­gan­ges ent­schie­den und wuss­te immer noch nicht, ob das jetzt rich­tig wäre. Papa war so mit­tel amu­sed. Druck. Ich muss­te an einen Song von Tina Dico denken.

Some­ti­mes the fas­test way to get the­re is to go slow
and some­ti­mes, if you wan­na hold on, you got to let go.“

Eigent­lich lässt man es bes­ser auf Eng­lisch, weil es im Deut­schen viel von sei­ner Kraft ver­liert. Aber nicht jeder hier heu­te kann Eng­lisch. Des­we­gen ver­su­che ich es einmal.

Manch­mal ist der schnells­te Weg, um anzu­kom­men, lang­sam zu gehen.
Und manch­mal musst du etwas los­las­sen, um dabei­blei­ben zu können.“

Den bis­he­ri­gen Weg sind Men­schen mit euch gegan­gen. Ein gan­zes Dorf: Eure Fami­lie, eure Lehr­kräf­te – hier und an eurer Grund­schu­le, eure Ver­wand­ten, viel­leicht eure Trai­ner in den Sport­ver­ei­nen, viel­leicht Mit­ar­bei­ten­de und Ehren­amt­li­che in der Jugend­ar­beit und Kir­chen und sozia­len Ver­bän­den, Men­schen, die euch in der KiTa betreut haben, vie­le Men­schen, ohne die ihr viel­leicht jetzt nicht gera­de hier, gera­de heu­te sit­zen wür­det. Übri­gens: In einer der für mich schöns­ten Schu­len Nie­der­sach­sens! Und ich kom­me viel her­um. Ohne Schul­trä­ger, ohne Poli­tik , das Team der Schul­lei­tung (über die wir ger­ne eher meckern), ohne Per­so­nal wie Haus­meis­ter, Raumpfleger:innen, Sekretär:innen, Schul­so­zi­al­ar­beit – alles nicht mög­lich. Dan­ke an Sie alle.

Ihr habt viel­leicht schon heu­te Abend oder in der nächs­ten Wochen eine gute Chan­ce, man­chen von die­sen Men­schen gegen­über etwas los­zu­wer­den. Sagt es ihnen. Ein Lob wärmt. Kri­tik zeigt immer Inter­es­se. Schwei­gen ver­un­si­chert. Im Leben zer­bricht deut­lich häu­fi­ger etwas an dem, was nicht gesagt wird als an dem, was gesagt wird.

Viel­leicht erin­nert ihr heu­te am ehes­tens die immer­wäh­ren­den ner­vi­gen Fra­gen, wie es in der Schu­le war oder das gemein­sa­me, manch­mal etwas müh­se­li­ge gemein­sa­me Üben mit irgend­wem, wenn etwas in der Schu­le nicht so gelau­fen ist. Viel­leicht erin­nert ihr euch jetzt eher an das immer­wäh­ren­de Bewer­tet­wer­den. Das geht lei­der noch ein wenig wei­ter. Viel­leicht erin­nern wir Eltern uns an so man­chen Gefühls­aus­bruch und Zwei­fel an unse­ren Fähig­kei­ten, an apo­ka­lyp­ti­sche Par­tys, War­ten in Auto­kor­sos mit Eltern in Jog­gings­an­zü­gen vor der Par­ty und nächt­li­che Nah­rungs­ge­lüs­te nach sol­chen – gera­de in der letz­ten Zeit.
Viel­leicht mischen sich aber auch sen­ti­men­ta­le­re Töne in die­se Rück­schau. Bei euch, weil eurer Weg eigent­lich erst beginnt und mit jedem eurer Schrit­te wei­ter ent­steht, für uns Eltern, weil sich für uns etwas ändert – sodass wir uns gele­gent­lich bald wün­schen wer­den, end­lich wie­der ein­mal eine ver­wüs­te­te Küche oder Woh­nung auf­zu­räu­men oder Wäsche aus dem Puma­kä­fig waschen zu dür­fen. Schließ­lich ja noch gar nicht so lan­ge her, dass ihr auf eine Arm­län­ge von uns gepasst habt.

Some­ti­mes, if you wan­na hold on, you got to let go.“

Eini­ge von euch wis­sen viel­leicht schon fel­sen­fest, was sie machen wol­len. Ich wuss­te das auch. Ich woll­te in eurem Alter auf gar kei­nen Fall Leh­rer wer­den, weil mei­ne Mut­ter woll­te, dass ich Leh­rer wer­de. Ich woll­te auf jeden Fall nie mehr als zwei Kin­der. Und eine fes­te Bezie­hung konn­te ich mir erst­mal auch nicht vor­stel­len. Viel­leicht ver­mu­tet ihr es schon: Davon ist jetzt nicht so viel genau so gekom­men. Das geht bis heu­te so.
Eini­ge von euch aber wis­sen viel­leicht auch gar nicht oder gar nicht so ganz sicher, wie es wei­ter­geht und fra­gen sich jetzt viel­leicht: Was wer­de ich tun? Wel­cher Weg ist der Rich­ti­ge für mich? Habe ich die rich­ti­ge Ent­schei­dung getrof­fen? Schaf­fe ich das? Ich mache viel­leicht schon ein Jahr etwas ande­res – was ist, wenn ich es danach immer noch nicht weiß? Und was ist, wenn ich nichts fin­de? Was ist, wenn ich es nicht schaffe?

Some­ti­mes the fas­test way to get the­re is to go slow.“

Jeder von euch ist heu­te schon­mal hier.

Wie­der ein­mal ein skan­di­na­vi­sches Land hat die­se Fra­gen schon lan­ge im Blick. In Däne­mark kann man für über­schau­ba­re Prei­se für eini­ge Zeit in eine der „fol­kehø­js­ko­le“ (Volks­hoch­schu­le) gehen, die als Inter­nat kon­zi­piert sind – sie haben nur sehr wenig mit ihren deut­schen Pen­dants zu tun. Kur­se zu Hea­vy Metal in einer z.B. klös­ter­li­chen Umge­bung sind dort kein Wider­spruch. Es gibt kei­ne Zie­le, kei­ne Prü­fun­gen, kei­ne Zer­ti­fi­ka­te. Im Mit­tel­punkt ste­hen der Mensch, das Mit­ein­an­der, der mitt­ler­wei­le inter­na­tio­na­le Dia­log. Es geht dar­um, zu sich zu kom­men, lang­sam zu gehen, um dann eine ers­te Ent­schei­dung dar­über zu tref­fen, wie es wei­ter­geht. Gerüch­te­hal­ber sol­len däni­sche Bildungspolitiker:innen berech­net haben, dass die „ fol­kehø­js­ko­le“ dem däni­schen Staat trotz der teu­ren Inter­nats­struk­tur mehr Geld spart als sie an Kos­ten ver­ur­sacht. (Jetzt kommt etwas Poli­tik: Gerüch­te­hal­ber sol­len jen­seits der Lan­des­gren­ze zu Däne­mark aber auch Wär­me­pum­pen selbst in unsa­nier­ten Alt­bau­ten im Win­ter wirt­schaft­lich funktionieren.)
Es gibt neben den däni­schen „fol­kehø­js­ko­le“ vie­le Mög­lich­kei­ten in Deutsch­land, Euro­pa, teil­wei­se sogar in der gan­zen Welt, sich für eine Wei­le in Gesell­schaft ein­zu­brin­gen und Selbst­stän­dig­keit zu erpro­ben, Druck zu neh­men für eine Zeit.
Wenn man sich nicht ent­schei­den kann, ist Druck immer der schlech­tes­te Bera­ter, den ihr bekom­men könnt. Bei fast jedem Ange­bot, mit dem Druck auf euch aus­ge­übt wird, soll­tet ihr miss­trau­isch wer­den. Lei­der muss man auch das immer wie­der sagen: Gera­de ihr Frau­en. Übri­gens nahe­zu egal, in wel­chem Lebensbereich.

Some­ti­mes the fas­test way to get the­re is to go slow.“

Läufer:innen wis­sen das: Die Sekun­den, die man am Anfang gewinnt, legt man spä­ter in Minu­ten obendrauf.

Aber ent­schei­den müsst ihr euch in einer Welt, die alles bie­tet und in einem Staat, der zuneh­mend jeden von euch braucht. Und ihr könnt es! Weil ihr Abitur und damit eine Wahl habt! Eine Wahl zu haben ist Luxus und nicht selbst­ver­ständ­lich. Dum­mer­wei­se gehört zu einer Wahl eine Ent­schei­dung. Und ja: Wah­len kön­nen manch­mal dumm ausgehen.

Wie Heinz Rudolf Kun­ze in irgend­ei­nem Jahr­hun­dert mal gesun­gen hat: Eige­ne Wege ent­ste­hen ja erst beim Gehen – nicht durch Zögern und Abwar­ten des ver­meint­lich Opti­ma­le­ren. Und das, was euch prä­gen wird, sind die Umwe­ge, die ihr gehen wer­det, z.B. die Par­tys, auf die ihr nicht geht, son­dern gera­tet, die Gesprä­che, die ihr nicht führt, son­dern die euch pas­sie­ren. Das Gespräch vom Anfang die­ser Rede wird z.B. für mich bleiben.

Wir Eltern müs­sen gemein­sam mit dem gesam­ten Dorf an Men­schen, mit dem ihr auf­ge­wach­sen seid – eure Lehr­kräf­te sind ja z.B. hier, dar­auf ver­trau­en, dass wir euch dafür alles mit­ge­ge­ben haben, damit ihr für euch ent­schei­den könnt und an den ver­meint­li­chen Feh­lern wach­sen wer­det. Wir müs­sen euch ver­trau­en, aber vor allem auch uns selbst, dass wir doch mehr rich­tig als falsch gemacht haben. Erzie­hung ist schließ­lich wie Bör­se: Hin­ter­her ist immer einfach.

Some­ti­mes, if you wan­na hold on, you got to let go“

Ihr wer­det alle euren Weg machen. Das weiß ich z.B. von zahl­rei­chen Gesprä­chen mit Ehe­ma­li­gen, die mir pas­siert sind. Wir ver­ges­sen in Deutsch­land ger­ne, dass es uns im Wesent­li­chen sehr gut geht, dass wir zumeist min­des­tens in war­men Woh­nun­gen mit genug zu essen in einem fried­li­chen Land sitzen.

Die Zukunft kann heut­zu­ta­ge manch­mal Angst machen. Ver­gesst aber nicht: Das ist nur die Zukunft, die wir nicht gestal­ten, die wir in unse­rem Den­ken so las­sen. Wir gestal­ten von nun an noch mehr mit euch. Als Dorf. Mit euren Wegen und Ent­schei­dun­gen. Ihr macht was draus, da bin ich mir sicher.

Some­ti­mes the fas­test way to get the­re is to go slow
and some­ti­mes, if you wan­na hold on, you got to let go“

Wasser auf meine Mühlen…

Ich wer­de heu­te eine empi­ri­sche Unter­su­chung vor­stel­len, nach der wir in der neun­ten Jahr­gangs­stu­fe eines nord­rhein-west­fä­li­schen Gym­na­si­ums eine Abitur-Leis­tungs­kurs­ar­beit Bio­lo­gie haben schrei­ben las­sen – ohne jede inhalt­li­che Vor­be­rei­tung. Das Ergeb­nis war erschre­ckend, denn zwei Drit­tel Schü­ler hät­ten die Abitur­ar­beit bestan­den, einer sogar mit einer Eins.“

Fund­stel­le: FR-online

Nun ist der gute Hans Peter Klein ursprüng­lich ein Gym­na­si­al­leh­rer und damit für eine Viel­zahl von Ste­reo­ty­pen prä­de­sti­niert – aber die­se Stu­die deckt sich mit mei­nen sub­jek­ti­ven Erfah­run­gen in mei­nen Fächern hier in Niedersachsen.

Mein Spruch dazu letz­tens im Che­mie­kurs auf erhöh­tem Niveau: „Ich berei­te euch nicht auf das Abitur vor – ich möch­te, dass ihr spä­ter im Grund­stu­di­um klar­kommt“. In mei­nem Deutsch­kurs auf erhöh­tem Niveau gab es in die­sem Jahr auch einen sat­ten Schnitt – nur: Das dazu not­wen­di­ge Wis­sen hät­te  wahr­schein­lich auch in einem hal­ben Jahr ver­mit­telt wer­den können.

Viel­leicht bin ich ein unglaub­li­cher Mie­se­pe­ter und freue mich nicht des eige­nen „Erfolgs“. Viel­leicht sind mei­ne Ansprü­che mitt­ler­wei­le welt­fremd, ich weiß es manch­mal nicht mehr.

Das Album der Charakterbilder – Papiertwitter?

Was tun in der letz­ten Stun­de vor Weih­nach­ten? Der Magen quillt über vor Man­da­ri­nen und Nüs­sen, Leb­ku­chen­her­zen und Domi­no­stei­nen. Fil­me wer­den eh schon genug geschaut, gefrüh­stückt und gespielt wird sowie­so. Daher habe ich in die­sem Jahr mit mei­ne Klas­se ein­mal mehr das Album der Cha­rak­ter­bil­der erle­ben las­sen. Das ist eine klei­ne Übung, um ruhig noch ein­mal jedem aus der Klas­se etwas zu schen­ken: Auf­merk­sam­keit und Wahrgenommensein.

Das Prin­zip ist sehr ein­fach: Wenn die Klas­se 30 SuS umfasst, gibt  es einen DINA3-Zet­tel, auf dem sich 29 Fra­gen und Impul­se befin­den. Ein Impul­se könn­ten z.B. sein:

Dei­ne größ­te Sorge

Dein Lieb­lings­schau­spie­ler

Was du an der Schu­le nicht magst

Dei­ne größ­te Stärke

usw.

Mei­ne Vor­la­ge für die­ses Jahr kann man hier natür­lich down­loa­den (*.odf, *.doc, *.pdf). Jede/r SuS schreibt ihren/seinen Namen oben auf das Blatt. Danach setzt man sich im Kreis am bes­ten an einen gro­ßen Tisch. Das Blatt wird jetzt gegen den Uhr­zei­ger­sinn an den Nach­barn wei­ter­ge­reicht. Die­ser Nach­bar beant­wor­tet jetzt die ers­te Fra­ge für den­je­ni­gen, der auf den Blatt steht, d.h. Paul hat das Blatt von Peter und über­legt, was nun Peters größ­te Sor­ge sein könnte.

Bei der Akti­on muss es mucks­mäus­chen­still sein – es geht nicht dar­um, im Team eine mög­li­che Ant­wort zu dis­ku­tie­ren, son­dern dar­um, sich ein­mal für 2–3 Minu­ten allei­ne mit einem Men­schen zu beschäf­ti­gen. Ein wenig ruhi­ge Musik im Hin­ter­grund hilft dabei. Als Zei­chen, dass alle fer­tig sind, legt jeder sei­nen Stift vor sich hin. Erst wenn alle Stif­te lie­gen, wird gemein­sam wei­ter­ge­ge­ben und die nächs­te Fra­ge beant­wor­tet. Irgend­wann kommt das Blatt dann wie­der bei sei­nem Besit­zer an, womit die Akti­on been­det ist. Bei einer 30er-Klas­se soll­te man 60 Minu­ten einplanen.

Natür­lich lässt sich nicht jede Fra­ge für jeden beant­wor­ten. Dann kann es hel­fen, ein­fach den Grund dafür auf­zu­schrei­ben, war­um das nicht mög­lich ist. „Ich ken­ne dich nicht!“ ist mir immer zu dünn. Gleich­zei­tig könn­te Brun­hil­de als aller­bes­te Freun­din von Petra den Impuls „Lieb­lings­far­be“ bekom­men, obwohl sie zu ande­ren Impul­sen viel mehr schrei­ben könn­te – da ist dann Krea­ti­vi­tät gefragt – war­um ist es denn z.B. „rot“? Obers­te Regel ist: „Was ich selbst als ver­let­zend emp­fin­den wür­de, schrei­be ich auch nicht bei jemand ande­rem hin!“

Nach der Akti­on soll­te Zeit sein, die Sache aus­zu­wer­ten, z.B. ein Run­de im Stuhl­kreis, in der jeder sagt:

Wel­che Ant­wort hat mich überrascht?

Wel­che Ant­wort ärgert mich?

Wel­che Ant­wort hät­te ich ger­ne mit dem Schrei­ben­den geklärt?

Ganz sel­ten erle­be ich es, dass ich nach einer sol­chen Akti­on Zet­tel im Klas­sen­raum fin­de. Hin und wie­der sehe ich bei Kurs­tref­fen einen an der Pinn­wand des Zim­mers ange­hef­tet. Ganz oft spü­re ich eine gewis­se Span­nung wäh­rend der Aktion.