Von uns Gralshütern – oder wie Beratung in sozialen Medien scheitern muss

Es gibt auf Twit­ter bestimm­te Plots, die immer wie­der ablaufen:

  1. Jemand gibt bekannt, das er/sie eine Klas­se mit Gerä­ten neu über­nimmt und fragt nach Pro­gram­men, Tipps und Ressourcen
  2. Das wird dann kom­men­tiert mit Hin­wei­sen wie: „Aber so oder so muss das doch schei­tern, es gibt ja kein Konzept!“
  3. Dann schal­ten sich Twit­ter­au­tori­tä­ten ein und ver­wei­sen auf Theo­rie­ar­ti­kel und beschrei­ben, inwie­fern die­se oder jene Vor­ge­hens­wei­se alte Struk­tu­ren zemen­tie­ren würde.
  4. Viel­leicht erbarmt sich noch irgend­wer und gibt eine lösungs­ori­en­tier­te Antwort.

Ich habe mich oft genug in den Schrit­ten 2–3 ein­ge­schal­tet und in Kon­zept- und Visi­ons­blind­heit dabei flei­ßig mitgemacht.

Ich habe mitt­ler­wei­le Fra­gen zu sol­chen Abläu­fen, die oft genug fast schon reflex­haft sind:

  1. Für vie­le Lehr­kräf­te ist es eine Über­win­dung, sich in sozia­len Netz­wer­ken anzu­mel­den. Meist hören sie dann zunächst nur still mit.
  2. Für vie­le Lehr­kräf­te ist es eine Über­win­dung, sich zu trau­en eine Fra­ge zu stel­len, die im Kern eigent­lich auf ihr eige­nes Unwis­sen zurück­ver­weist. Sie ver­trau­en impli­zit – in Unkennt­nis der Dyna­mi­ken auf Social­me­dia dar­auf, dass nur Men­schen reagie­ren, die lösungs­ori­en­tiert agie­ren. Sie bekom­men aber Meta­ana­ly­sen, die sie und ihr Han­deln infra­ge stellen.
  3. Vie­le Lehr­kräf­te befin­den sich hin­sicht­lich ihrer Ent­wick­lung in Bezug auf den Ein­satz digi­ta­ler Gerä­te oder gar im Hin­blick auf eine ver­än­der­te Schul­kul­tur ganz am Anfang.

Das Ziel von uns Medi­en­fuz­zi­es ist ja irgend­wie, einen Rah­men zu schaf­fen Kom­pe­ten­zen inner­halb der Leh­rer­schaft zu ent­wi­ckeln. Indem auch ich mich lan­ge Zeit so ver­hal­ten habe, habe ich die­ses Ziel oft genug aus den Augen ver­lo­ren. „Pap­per­la­papp – wer sich öffent­lich so äußert, muss sich mit sach­li­cher Kri­tik aus­ein­an­der­set­zen!“ Vor einer Grup­pe öffent­lich in die­sem Real­li­fe wie sach­lich auch immer kri­ti­siert zu wer­den, ist schon nicht leicht – man braucht gute Ref­raming-Tech­ni­ken, um nicht auf die per­sön­li­che Ebe­ne zu rut­schen. In der völ­lig schutz­lo­sen Social­me­dia-Öffent­lich­keit ist das bestimmt noch viel schwieriger.

Daher ent­glei­sen Dis­kur­se: „Du stellst mich infra­ge, das muss ich mir hier nicht bie­ten las­sen!“ vs. „Sach­li­cher Kri­tik muss man sach­lich begeg­nen, das gehört zum Erwach­sen­sein!“. Hin­ter­her sind bei­de muksch – wie man hier im Nor­den sagt und gewon­nen ist auch so ziem­lich gar nichts – denn: Die „sach­li­chen Grals­hü­ter“ wer­den ledig­lich in „Son­der­bla­sen“ iso­liert, igno­riert, ent­folgt. Und das in einem Umfeld, das an sich schon eine win­zi­ge Bla­se in der Leh­rer­schaft ist. Ins­be­son­de­re der Ver­hält­nis zwi­schen Schu­le und uni­ver­si­tä­rer Didak­tik ist mei­ner Auf­fas­sung nach ein Mus­ter­bei­spiel für die­se Art von struk­tu­rel­ler Ver­här­tung. Ein guter Kon­takt zur Infor­ma­tik­di­dak­tik in Olden­burg hat mich gelehrt, dass es ganz anders gehen kann.

Ich mag Theo­rie sehr, sehr ger­ne und ich fin­de Kri­tik wich­tig. Aber Sach­lich­keit ist ledig­lich ein not­wen­di­ges Kri­te­ri­um von Kri­tik und kein hin­rei­chen­des. Ich möch­te zukünf­tig mehr aner­ken­nen, dass es bei mei­ner Ent­wick­lung Pha­sen der unre­flek­tier­ten Tech­nik­nut­zung gab und gibt. Und die­se Pha­sen sind auch wich­tig! Ent­schei­dend waren für mei­ne Ent­wick­lung per­sön­li­che Begeg­nun­gen und Rah­men­be­din­gun­gen, in denen Kri­tik mich auch errei­chen konn­te. Social­me­dia ist dafür über­haupt kein guter Rah­men. „Mis­sio­nie­ren“ kann man anders­wo impli­zit viel bes­ser. Und das soll­te man mei­ner Mei­nung nach ger­ne tun.

Gera­de Twit­ter führt oft genug in Ver­su­chung, eine Per­son auf Basis einer ein­zi­gen Äuße­rung zu bewer­ten. Das ist mir selbst auch schon pas­siert. Sys­te­misch ist das kom­plett falsch und es kann nicht auch nur zu irgend­was führen.

Was wir in Bezug auf Technisierung nach Corona an Schulen sehen werden

Twit­ter ist ein Bla­se. Mein Land­kreis ist eine Bla­se. For­schungs­pro­jek­te im Bereich der Didak­tik sind lei­der auch oft Bla­sen (hier die Tech­ni­sie­rungs­pro­ble­ma­tik). In der einen Bla­se wird z.B. gefei­ert, dass man jetzt über Auf­ga­ben­mo­du­le Schüler*innen Mate­ri­al bereit­stel­len kann.

Und es gibt ers­te Ten­den­zen: Mein Ältes­ter (hin­rei­chend über Jah­re von mir indok­tri­niert), prognostizierte:

Dem­nächst wer­den Lehr­kräf­te Auf­ga­ben­mo­du­le auch nach den coro­nabe­ding­ten Schul­schlie­ßun­gen wei­ter­nut­zen. Dann gibt es kei­ne Chan­ce mehr, Auf­ga­ben nicht recht­zei­tig auf­zu­ge­ben oder nicht zu erledigen!“

Schon ziem­lich am Anfang der Nut­zung von Auf­ga­ben­mo­du­len kam bei eini­gen Lehr­kräf­te hier im Land­kreis der Wunsch auf, gestell­te tech­ni­sier­te Auf­ga­ben jetzt effek­tiv zu archi­vie­ren – samt Schüler*innenlösungen. Und das ist mehr als nachvollziehbar.

Die Reak­ti­on der Twit­ter­bla­se auf sol­che Ent­wick­lun­gen ist vor­her­seh­bar: „Tech­nik als Kon­troll­in­stru­ment!“ „Das an Schu­le tech­ni­sie­ren, was am ehes­ten zu tech­ni­sie­ren geht!“ Alles böse.

Aber auch eine Fra­ge der Per­spek­ti­ve. Ich bin unglaub­lich froh dar­über und ste­he stau­nend davor, wie sich jetzt durch Tech­ni­sie­rung des Unter­richts, Bedien- und Anwen­dungs­kom­pe­ten­zen bei deut­lich mehr Kolleg*innen ent­wi­ckeln – wie Fra­gen kom­men, die bis­her nie eine Rele­vanz hat­ten im All­tag. Von da aus wird der Schritt zur Digi­ta­li­sie­rung kleiner.

Auf der ande­ren Sei­te wird durch Tech­ni­sie­rung auch recht bru­tal trans­pa­rent, wie Unter­richt von Lehr­kräf­ten gedacht wird und wel­che Rol­len Schüler*innen dabei ein­neh­men. Anhand von Auf­ga­ben­for­ma­ten und metho­di­schen Vor­ge­hen las­sen sich u.U. gan­ze Men­schen­bil­der vermuten.

Auf der einen Sei­te wird Unter­richt durch Tech­ni­sie­rung „doku­men­tier­ba­rer“, vor­der­grün­dig „objek­ti­ver nach­prüf­bar“ („Wer hat wann und über­haupt abge­ge­ben?“). Das ist kein Prin­zip, was auf Auf­ga­ben­mo­du­le beschränkt ist. So erzähl­te mir letz­tens ein Schulleitungsmitglied:

Seit Ein­füh­rung des tech­ni­sier­ten Klas­sen­buch sind die Kopf­no­ten aller unser Schüler*innen viel schlech­ter geworden!“

Auf der ande­ren Sei­te gilt das natür­lich auch für die Arbeit der Lehr­kräf­te: Es ist leicht nach­prüf­bar, wer wie vie­le Auf­ga­ben gestellt und auch kor­ri­giert hat. Oder wie vie­le E‑Mails ver­schickt wur­den. Dafür braucht es ledig­lich ein paar Skrip­ten und Log­file­aus­wer­tun­gen. Sagt das etwas über Qua­li­tät von Arbeit aus?

Und die­se Ansät­ze schei­nen für man­che Schul­lei­tun­gen gar nicht so abwe­gig zu sein. Durch Tech­ni­sie­rung kön­nen Leis­tun­gen von Schüler*innen und Lehr­kräf­ten glei­cher­ma­ßen doku­men­tiert und aus­ge­wer­tet wer­den. Mitarbeiter*innen eini­ger Kon­zer­ne ken­nen das schon.

Durch Tech­ni­sie­rung bil­den sich Vor­aus­set­zun­gen für digi­ta­li­sier­tes Arbei­ten. Die­ses kann auch ganz los­ge­löst von als Tech­nik bezeich­ne­ter Tech­nik funk­tio­nie­ren – man­che Din­ge sind dann bloß erheb­lich aufwändiger.

Was ist für mich der Unter­schied zwi­schen Tech­ni­sie­rung und Digi­ta­li­sie­rung? In einer Fort­bil­dung habe ich ver­sucht, das schlag­licht­ar­tig in zwei Sät­ze zu pressen:

  • Digi­ta­le didak­ti­sche Set­tings ermög­li­chen Schüler*innen, ihre eige­nen Struk­tu­ren zu finden.
  • Digi­ta­le didak­ti­sche Set­tings ermög­li­chen, die die bereits vor­han­de­nen Kom­pe­ten­zen der Schüler*innen nut­zen und sicht­bar wer­den lassen.

In der Pha­se der coro­nabe­ding­ten Ein­schrän­kun­gen des Schul­be­triebs hel­fen der­ar­ti­ge Set­tings, nicht zur „Kor­rek­tur- oder Aus­füll­ma­schi­ne“ zu ver­kom­men – Schüler*innen und Lehr­kräf­ten gleichermaßen.

Das alles geht tech­ni­siert, z.B. mit kol­la­bo­ra­ti­ven Schreib­werk­zeu­gen – aber auch – eben­falls tech­ni­siert, nur eben anders tech­ni­siert – mit einem Pla­kat oder Schuh­kar­ton. Ent­schei­dend ist das Setting.

Und ein: „Lass doch mal zu, dass dei­ne Schüler*innen die Argu­men­te im Ether­pad nach Gewich­tig­keit selbst ord­nen!“ ist viel schwie­ri­ger, als wie gewohnt zu Hau­se ein Ether­pad vor­struk­tu­riert vor­zu­be­rei­ten, wie man es von einem Tafel­bild gewohnt ist.

Die digi­ta­le Tech­nik ist meist das viel klei­ne­re Problem.

Ent­schei­dend ist für mich das „sowohl – als auch“. Instruk­ti­ve Pha­sen kön­nen Kom­pe­tenz­ent­wick­lung durch­aus posi­tiv beein­flus­sen – wenn ich hin­ter­her aus einer Meta­per­spek­ti­ve mit Schüler*innen dar­auf schaue: „Das war jetzt ein gän­gi­ger Ansatz! Der ermög­licht das und das. Habt ihr Ideen für ande­re Ansät­ze?“ (Wie könn­te man das Tafelbild/die Prä­sen­ta­ti­on viel­leicht noch gestalten?).

Tech­ni­sie­rung“ hal­te ich für eine wesent­li­che Vor­aus­set­zung für „Digi­ta­li­sie­rung“. Wenn Tech­ni­sie­rung durch eine digi­ta­le Ziel­per­spek­ti­ve unter­mau­ert ist, fin­de ich sie ganz erträg­lich und hel­fe auch sehr ger­ne auf die­ser Ebe­ne. Das macht mir inhalt­lich über­haupt kei­nen Spaß. Aber ich ler­ne viel durch die Begeg­nun­gen mit Men­schen dabei.